Ein Kommentar von Tyll Mylius, Berlin und Franco Membrini
Sigmar Gabriel wird nicht wie angenommen der Kanzlerkandidat der SPD. Stattdessen wird der auf bundespolitischer Ebene eher unbekannte Martin Schulz diese Kandidatur übernehmen. Die angeschlagene SPD setzt grosse Hoffnungen in den EU-Bürokraten.
Es ist also entschieden. Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur der SPD. Für nicht wenige eine große Überraschung. Galt der aktuelle Vizekanzler vor einigen Monaten noch als einziges Flaggschiff, welches die Partei in das Wahljahr 2017 führen könnte, hat sich der Wind gewaltig gedreht. Gabriel gab am Dienstag nicht nur seine Kanzlerambitionen auf, sondern trat darüber hinaus auch als Chef der deutschen Sozialdemokraten zurück. „Am Ende ist es so banal wie im Fußball: Wenn der Verein immer im Keller spielt, dann ist irgendwann der Trainer dran. So sind auch in der Politik die Spielregeln, und das ist in Ordnung“, kommentierte Gabriel seine Entscheidung. Der Schritt der SPD-Grösse könnte sich am Ende in der Tat als gesunden Wandel bei den Genossen entpuppen.
Nach aktuellen Umfragen liegt die SPD, wenn am Sonntag Bundestagswahlen wären, bei rund 20 Prozent. Dies wäre das schlechteste Ergebnis, das die Partei in den letzten Jahrzehnten erzielte. Es steht außer Frage, dass die Verantwortung für dieses verheerende Ergebnis der Parteivorsitzende respektive der Kanzlerkandidat mitzutragen und auch wenigstens teilweise zu verantworten hat. Nun folgte Gabriel dieser Verantwortung und ermöglicht der SPD zumindest im bevorstehenden Rennen um die Kanzlerschaft neue Aussichten.
Kurz nach dem Rücktritt Gabriels ist der neue designierte Kanzlerkandidat der SPD bereits gesetzt: Martin Schulz soll es richten. Bis vor wenigen Tagen war dieser noch Präsident des Europaparlaments, nun soll er die deutsche Sozialdemokratie aus ihrem Tief holen. Der Brüsseler Bürokrat trat während seiner Zeit bei der EU als Kämpfer auf, ohne Abitur brachte er es bis zum Präsidenten. Trotzdem erwartet Schulz in Deutschland eine äusserst schwierige Herausforderung. Der EU-Politiker hat auf nationaler Ebene so gut wie keinerlei Erfahrung, verfügt in Berlin über kein eingespieltes Team und hat in der SPD kaum Rückhalt. Ob Schulz die Sozialdemokraten bei den anstehenden Wahlen aus ihrem Tief führt ist deshalb mehr als fraglich. Wahrscheinlicher ist indes, dass die rechte AfD nach dem Duell Schulz gegen Merkel einmal mehr als lachende Dritte dastehen könnte.
Gleichzeitig ergibt sich für Sigmar Gabriel eine neue Chance. Durch den anstehenden Wechsel von Frank Walter Steinmeier vom Außenministerium zum Bundespräsidenten wird im Kabinett eine neue Position vakant. Diese kann Gabriel nun übernehmen und hat somit ein Ministerium inne, welches er potentiell auch über diese Legislaturperiode hinaus bekleiden kann. Ein gewagtes Spiel, da eine Kanzlerkandidatur abzulehnen auch immer den Verlust von Reputation bedeutet. Das nächste Jahr wird zeigen, ob es für Gabriel gut ausgeht.
(Bild: EQImages/Steffi Loos)