Weil kaum jemand am Strassenrand steht, bleibe ich bis zwei Uhr nachts wach und schaue den Marathonläufern zu, wie sie auf des Emirs Küstenstrasse auf und ab rennen. Mein Akt der Solidarität. Spannend ist das nicht wirklich. Ob Emir zuschaut? Überfüllt ist dessen Marmortribüne jedenfalls nicht. Der eine oder andere tapfere Läufer wird die Ziellinie nie überqueren, da ändert auch das mitternächtliche Cooling an den längsten Theken Dohas nichts. Die Schnellsten fliegen irgendwann ins Ziel. Mir aber fallen die ab Kilometer 40 torkelnden Mannen ins Auge, und lassen mich spät nachts weit zurückdenken.
Mein Quartierhort vergangener Tage war das Restaurant ‹Neustadt› an der Churer Scalettastrasse: Ein kleines, verrauchtes Lokal, das aus zwei Räumen und einem Buffet bestand. Es sollte wohl den Anschein machen, dass der hintere Raum regelmässig als Minisaal genutzt würde, für Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und dergleichen. Tatsächlich sah ich da niemals Arbeiterklasse-Gesellschaften in katholischer Feierlaune. Herzstück des Lokals war sowieso der Stammtisch vorne, gleich neben dem Zigarettenautomaten. Der steile Weg zum Klo im unteren Stock entpuppte sich für so manchen Gast in beide Richtungen als gröberes Wagnis. Am runden Tisch mit dem überproportionalen Aschenbecher sass immer jemand. Meistens Männer. Manchmal Frauen mit erstaunlich tiefen Stimmen. Sie redeten über Unwichtiges: das Skirennen, das Wetter, den Bischof. Oder über Bodenmann und Blocher. Dann lauter. Für mich war das Lokal eine Stube auf Zeit. In Musikgesellschaften lernt man schliesslich nicht nur das gemeinsame Musizieren. Soziales schwingt da immer mit. Die Beiz als fester Bestandteil non-formaler Bildung – so würde man das heute nennen.
Eingebettet im Erdgeschoss eines der vielen Arbeiterblöcke einer gefühlt aufsteigenden Mittelschicht, gehörte das ‹Neustadt› zu diesem Quartier einfach dazu. Es war Teil der Identität jener Stadtbewohner, die da wohnten, wo die anderen nicht wohnten. Wohl auch nicht wohnen wollten. Aber immerhin – eine eigene Beiz, mit passendem Namen. Irgendwann ging ich nicht mehr dahin. Die Beizen in der Altstadt erschienen mir wohl die bessere Wahl. Ich kehrte da ein, wo ich nicht wohnte. Der lange Heimweg aber führte stets vorbei an der alten Kneipe, bald einmal torkelnd, mit demselben leeren Blick wie die Marathonläufer zu Doha. Und ähnlich wenig Zuschauern am Strassenrand.
Ob man es glaubt oder nicht: Das gen Rhein gerichtete Quartier mit dem hässlichen Antlitz hat einmal gelebt. Seine Geschichten, seine Bewohner, die Erzählungen machten es aus. Ob die «Vier Jahreszeiten», das jüngste Bürgergemeinde-Bauprojekt mit 96 Loggia-Wohnungen für Familien und Junggebliebene, erbaut auf dem vergifteten Schrebergartengelände am untersten Stadtrand es vermag, dem Ort neues Leben einzuhauchen? Ist das der Beitrag für eine gesunde Stadtentwicklung? Plant Chur die Stadt vorbei an den Menschen, wie der Emir die WM am Persischen Golf?
Ich war letzthin wieder im neustädtischen Quartierhort. Die Stimmen, der Rauch, die schneidige Wirtin, das Aromat, Bodenmann und Blocher – alles weg. Die verwitterte Anzeigetafel zeugt von den alten Tagen, leuchtet heller denn je. Das Lokal ist jetzt ein anderes. Die Menschen, die dort einkehren, ich kenne sie nicht. Wo das belebte Quartier, jene unterschiedlichen, vertrauten Menschen, dieser geschützte, eingefriedete Ort wohl geblieben sind?
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(Bild: Google Streetview)