Meinerein er ging früher zur Kirche. Die neuen Jungen gehen zur Demo. Und erwecken damit meinen Neid: Die Langeweile der beginnenden Neunziger kannte keine gescheiten Demos. Nur diese eine Demo gegen die Obrigkeit im Bistum Chur. Da durfte ich aber nicht hin. Unsere Revolution konzentrierte sich auf Bier im Metermass, Churer Spassrock aus der untersten Schublade und Lederjacken aus der Brockenstube. Und kannte nur die Fünf-Tage-Woche; am Wochenende wurden die Haare wieder gekämmt, die Hemdchen gebügelt und die Händchen demütig zum Gebet gefaltet. Heute gehen wochenends immer weniger zur Kirche und immer mehr zur Demo. Ja, die Neunziger waren – rückblickend betrachtet – eine schlechte Zeit für revolutionsinteressierte Jugendliche.
Hundert und ein halbes Jahr nach dem grossen Generalstreik und einundfünfzig Jahre nach 1968 liegen die Dinge heute tatsächlich anders: Unter dem Aufhänger des Klimanotstands gehen hierzulande die Menschen endlich wieder auf die Strasse. Wie gerne wäre ich nochmals bepickelt jung, wie diese Mädchen und Jungen im Schweizer Fernsehen, die bescheuert mit den Händen winken und doch kluge Dinge sagen! Diese Wilden dünken mich vorbereitet, organisiert, fokussiert: Sie haben längst verstanden, dass es im Kern um Systemveränderung geht. «Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören», schrieb einst Karl Marx an seinen Freund Joseph Weydemeyer in einem Brief. Haben die jungen KritikerInnen dieser Tage ihre Sinne geschärft? Ist da was im Gange? Haben Sie die Zeichen der Zeit erkannt? Folgt man den Ausführungen des umstrittenen Linken Jean Ziegler in seiner neusten Streitschrift, dann wächst das Gras aktuell ganz gewaltig. Ziegler sieht auf einhundertsechsundzwanzig Seiten die Zeit der Revolte gekommen, doziert, zitiert – von Neruda bis Sartre– , übertreibt, kämpft für die gerechte Sache, geht in den Widersprüchen auf und unter und hört sich selbst am liebsten zu. Allerdings: In «Was ist so schlimm am Kapitalismus?» begegnen wir auch einem alten Mann im Gespräch mit seiner Enkelin. Dieses Momentum zwischen der kritisch fragenden Zohra und dem streitbaren Grossvater könnte den Nerv der Zeit nicht besser treffen. Im Dazwischen der wuchtigen Zeilen liegt Nahrung für die aufkeimende Bewegung, welche – so meine ich – die Chance hat, tatsächlich endlich et was zu bewegen. Das kleine Buch könnte zur Pflichtlektüre der Klimastreikbewegung avancieren: Klug gelesen, erhellt es wichtige Bezüge zur europäischen Geschichte und der grossen Ungleichheit in der Welt. Wer weiss, vielleicht verändert die neue Jugendbewegung diese Welt, ohne zu wissen, wie. Aber das wussten die Aufständischen am 14. Juli 1789 am Seine-Ufer auch nicht. Die Revolution wurde «aus der Freiheit» geboren, so der vom Tagesanzeiger als «Revolutionär im Vorzimmer des Kapitals» verspottete Jean Ziegler. Geboren ist die neue Bewegung längst: weniger aus Freiheit, mehr aus dringlicher Notwendigkeit. Und laufen lernen soll sie nun! Ziegler tanzt mit: im Schlepptau der Jungen oder in Buchform unterm Kopfkissen. Am 6. April 2019 bewegt sich wieder etwas – vielleicht auch mit Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser!
Ich für meinen Teil hoffe, dem energischen jungen Redner aus der SRF-Arena beim Klimamarsch zu begegnen: Ich glaube ernsthaft, der Bursche trägt meine alte Lederjacke! 1994 in Zürich für wenig Geld erstanden, am Zoll von Genf bis auf die letzte Naht durchsucht und Jahre später dem Blauen Kreuz vermacht, könnte das Ding, so ich es zurückgewinne, meine neue Wochenendkluft werden. Ungekämmt wieder zurück auf der Strasse: Wer hätte das gedacht!
PS: Aus der Rubrik Alltagsrätsel: Mein Chef hat mir zum Geburtstag ein Pediküre- Reiseset geschenkt. Was könnte das Ihrer Meinung nach bedeuten? Für sachdienliche Hinweise schreiben Sie mir bitte ungeniert. Danke.
(Bild: Facebook/ Klimastreik Schweiz)