«Al Hatr!», schreit der Mann neben mir in der Umkleide, während er seine Hose probiert, die ihm – das könnte ich ihm jetzt schon verraten – mit Sicherheit nicht steht. Kumpel, du trägst nicht Grösse S! Ich probiere mich durch einen Stapel Sale-Hemden und schwitze ordentlich. Warum Kaufhäuser auch so kräftig einheizen? Meine Schweissausbrüche werden von «Al Hatr» begleitet: Etwas scheint dem jungen Mann da neben mir nicht zu gefallen. Aber was? Ich beginne nachzudenken.
Telefoniert er wohl gerade mit Ueli Maurer? In der Rolle des Mittelsmannes versteckt er sich, so nehme ich an, unauffällig im Kaufhaus an der Bahnhofstrasse, zieht viel zu kleine Hosen an, die niemand will, und verschafft der Schweizer Bankenwelt – mir nichts, dir nichts – neue Zugänge ins alte Reich. Hier wird’s ja auch langsam langweilig: Der Minuszins drückt auf die Stimmung und ohne Geheimnisse macht das grosse Spiel keinen Spass. Dass das alles nicht mit rechten Dingen zu geht, weiss er schon, aber mit dem immer wirtschaftsliberaleren «Rechts» lässt sich je länger, je besser verhandeln. Zumindest bezüglich Fragen des Geldes. Und darum geht’s. Vielleicht hat die Berichtserstattung linker Flugblätter nur meine Fantasie beflügelt, sich meines Verstandes ermächtigt und trübt nun meinen Blick. Deshalb lasse ich die These, wenn auch wiederwillig, weiterziehen.
Möglich, dass es sich bei dem knapp dreissigjährigen Schreihals um einen ganz normalen Papa handelt, der «Al Hatr», seinem Sohn, erklärt, dass er gefälligst zur Schule gehen soll. Schliesslich habe er kein streikbedingtes Dispensgesuch eingereicht, was zu mehr Problemen führt, weil exakt dieser Umstand unweigerlich Gespräche nach sich ziehen wird, an denen Papa nicht unbedingt teilnehmen möchte. Er muss ja mit Ueli telefonieren. Die Streiks wären ihm im Grunde genommen egal, das Klima ist es aber auch. Von Klimanotstand hat er bis dato nichts gelesen. Kühlen Kopf bewahren, heisst die Losung der Stunde.
«Al Hatr» schallt es immer lauter, der Verursacher hat aber auch weiche Seiten. Einige davon – der sichtbare Teil – quellen links und rechts der Hüfte über die Hose. Andere dünken mich von feiner Gestalt. Wesenszüge. Das Funkeln in den dunklen Augen. Das Schelmische. Dem Anschein nach könnte er jemand sein, der sich einsetzt: Für die Geflüchteten, welche bei uns Flüchtlinge heissen. Er könnte hauptberuflich an Schulen und schulnahen Diensten als Dolmetscher und Kulturübersetzer wirken. Ich habe die Leute immer gerne bei mir im Schulzimmer. Es ist so, als würde sich ein Fenster in eine völlig andere Welt öffnen. Wie damals, als ich Hosseinis «Drachenläufer» auf einem defekten Liegestuhl an der europäischen Aussengrenze am Kap Greco las, gen Osten blickte und mich in Afghanistan wähnte. Einen flüchtigen Augenblick lang. Wer weiss, vielleicht schafft er es gerade, einen Vater, eine Mutter in jene Bildungsinstitution zu locken, die den anscheinend versagenden Eltern im Moment so gar kein Angebot zu unterbreiten vermag. Weil sich beide Seiten kaum verstehen und sich keinen Meter über den Weg trauen. Vielleicht schafft er es, den ersten wichtigen Kontakt zu initiieren. Vielleicht setzt der Papa seinen Fuss über die Türschwelle der Schule. Vielleicht kann er die Lehrerin für das Wagnis begeistern und dem Gespräch die Schwere nehmen. Dann würde – vielleicht – einiges plötzlich einfacher gehen, würden Vorurteile nicht mehr blöde im Weg rumstehen, bekäme die Szenerie Leichtigkeit, ja gar Spielerisches.
Dolmetschende können zu Schlüsselfiguren werden. Möglicherweise sind sie noch nicht alltäglich. Möglicherweise benötigt die echte Zusammenarbeit noch viel Zeit. Viele unspektakuläre Kooperationsbeispiele aus dem Alltag belegen allerdings eindrücklich, wie mit verhältnismässig wenig Aufwand, viel erreicht werden kann. Das müsste doch den SparpolitikerInnen gefallen! Die interkulturelle Öffnung der Schule (als auch der Gesellschaft!) ist ein weiter Weg, doch erste, ganz schmale Pfade bestehen und können weiter in Richtung differenzfreundlicher und diskriminierungskritischer Schule gegangen werden. Was es dazu braucht, sind gelungene Beispiele: Ihre Signalwirkung ist oft überraschend hoch! Schule erreichte dann etwas, wovon Gesellschaft im Hier und Jetzt nur an hochnäsigen Fachtagungen zu träumen wagt. Nach Tagungsende klingen die Visionen bald einmal ab, im Alltag kommen sie kaum an. Nur – die ärgerliche Tatsache Gesellschaft, um mit Ralf Dahrendorf zu sprechen, tritt täglich durch die Schultür!
Handbücher zur Zusammenarbeit mit Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, besser: der imaginären Gruppe der Anderen, braucht es meiner Meinung nach keine. Was es braucht ist Neugier. Wissen. Manchmal eine echte Portion Mut. Und in Anlehnung an Bertrand Russel das Bewusstsein, dass wir uns als Menschen an Menschen wenden. Und weiter: «Denkt an eure Menschlichkeit und vergesst alles andere! Wenn ihr das könnt, ist der Weg frei für eine neue Gesellschaft.» In Zeiten wie diesen, gerade jetzt, da etwas Veränderung in der Luft liegt, nur ein Hauch, klingen die Worte des Philosophen Russel eingängiger denn je.
Noch wird hierzulande viel zu wenig über Pädagogik in der Migrationsgesellschaft gesprochen. Es wird Zeit! Wir sollten darüber nachdenken, wie wir in einer ungleichen Gesellschaft, Bildung für alle (!) schaffen können. «Al Hatr» – was könnte das nicht alles sein!
Die Hemden passen mir nicht. Das wusste ich vorher schon. Ich gebe auf, lasse sie liegen, zwänge mich in meine Jacke und gehe. Er bleibt. Spricht weiter. Unentwegt. Bye bye, «Al Hatr». Und – danke!
PS: Zum Wochenausklang empfehle ich einen selbstgerösteten bolivianisch-organischen Kaffee aus der Yungas Region, allein gebraut bei Minustemperaturen im Wacaco Miniespressozubereiter für Outdoorfreaks. Trinken können Sie ihn ja dann drinnen.
(Symbolbild: Pixabay)