Dies ist ein Blogbeitrag der HTW Chur.
Während zwei Jahren begleitete ich als Kameramann, zusammen mit dem Regisseur Christian Frei, den Fotografen James Nachtwey in den Krisengebieten dieser Welt. Es entstand der Film «War Photographer», einer der erfolgreichsten Schweizer Dokumentarfilme. Ich wurde immer wieder auf die Dreharbeiten angesprochen. «Das war sicher spannend» «War es gefährlich?» «Hattest du manchmal Angst?»
Aber es waren nicht diese Fragen, die mich am meisten beschäftigten, sondern eine Aussage von James Nachtwey, in der es darum geht, jenen Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Im ersten Moment leuchtet das ein und legitimiert die Arbeit des Fotografen und des Journalisten. Aber bei genauerem Hinschauen wird klar, dass es gar nicht so einfach ist, wie es klingt. Wollen diese Menschen denn, dass man für sie spricht? Und ist es nicht eine Bevormundung, wenn wir uns anmassen, fürandere unsere Stimme zu erheben, auch im übertragenen Sinne, indem wir Artikel, Fotos oder Filme veröffentlichen? Oder ist es nicht viel eher so, dass wir vom Elend der Welt profitieren?
Natürlich geht es um einen allgemeinen Gedanken: den Blick der Öffentlichkeit auf Zustände und Gemeinschaften zu lenken, die sonst in der medialen Wahrnehmung unterzugehen drohen. Dadurch üben Medienschaffende auch eine Kontrollfunktion aus. Dort, wo niemand hinschaut, ist die Gefahr von Missständen bestimmt am Grössten.
Aber eben, was heisst es nun, wenn wir uns zu Anwälten von Unterdrückten, Vergessenen, Marginalisierten machen? Steht es uns überhaupt zu?
Wir waren damals mit James Nachtwey in Kosovo. Der Krieg war gerade mal seit drei Wochen zu Ende. Viele Familien kehrten in ihre meist zerstörten Häuser zurück. Und sie luden uns zu sich ein, wollten uns zeigen, wie es ihnen erging. Und immer wieder die Aufforderung, hinzuschauen und zu fotografieren oder zu filmen. Ich war überrascht, wie bewusst diese meist einfachen Leute mit der Situation umgingen. Es schien ihnen absolut klar zu sein, dass wir ihr Sprachrohr waren, damit der Welt mitgeteilt werden konnte, was ihnen widerfahren war und wie es ihnen jetzt erging. Immer klarer sah ich, dass hier eine Vereinbarung getroffen wurde – häufig ohne Worte, mit Blicken und kleinen Zeichen, auffordernden Gesten. Aber das war das Entscheidende. Wir waren nicht dort, um Bilder zu «stehlen» und vom Leid der anderen zu profitieren, sondern es waren Begegnungen auf Augenhöhe. Wir bekamen unsere Bilder und die Menschen vor der Kamera bekamen durch uns eine Stimme und ein Gesicht. Die Reaktionen der Zuschauer auf den Film zeigten es immer wieder: Diese Menschen und ihre Lebenssituation begannen bei ihnen erst zu existieren, als sie die diese Bilder zu sehen bekamen.
Jahre später war ich mit Markus Imhoof unterwegs. ELDORADO ist ein Film über das, was häufig die Flüchtlingskrise genannt wird. Wir wollten sehen und herausfinden, was hinter diesem Begriff steckt und ob sich das eigentliche System hinter der medialen Fassade erzählen lässt.
Es war nicht einfach, die Drehbewilligung für die San Giusto zu erhalten. Die San Giusto ist ein Kriegsschiff der italienischen Marine. An Bord herrscht militärische Routine. Zivile Passagiere gibt es keine. Aber wir hatten es mit viel Papierkrieg und Überredungskunst geschafft und waren an Bord, hatten unsere Kajüte bezogen.
Die nächsten zehn Tage hatten es in sich. Die San Gusto war Teil der Aktion Mare Nostrum, eine Operation der italienischen Marine und der Küstenwache zur Seenotrettung von Migranten im Mittelmeer. Wir waren froh, dass wir es geschafft hatten, denn ein Monat später wurde Mare Nostrum eingestellt.
Zu Beginn war nicht viel los. Das Schiff kurvte in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste, aber die hohen Wellen hielten die Flüchtlingsboote vom Auslaufen ab. Wir hatten uns schon an den etwas öden Alltag an Bord gewöhnt, als Bewegung aufkam. Der Hubschrauber hatte ein erstes Boot lokalisiert, die San Giusto nahm Kurs in die angegebene Richtung. Zu jenem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen, dass bis zum Ende der Fahrt 1800 Flüchtlinge an Bord sein würden, so viele wie noch nie zuvor.
Wir hatten die Möglichkeit, bei den Rettungsaktionen dabei zu sein und auch unter Deck zu drehen, wo die Flüchtlinge untergebracht waren, bis der Platz ausging und sie auch an Deck im Freien ihren Platz zugewiesen bekamen.
Die Dreharbeiten waren nicht einfach. Wir mussten jeweils anmelden, wenn wir drehen wollten. Dann erhielten wir beispielsweise die Bewilligung, eine Stunde unter Deck zu drehen. Dazu musste man sich komplett umziehen: Schutzanzug, Gummihandschuhe, Atemmaske, Überschuhe aus Plastik. Und dies bei sehr sommerlichen Temperaturen! Es war eine physische, aber mindestens so sehr auch eine emotionale Herausforderung. Die Menschen, die wir bei den Rettungen und anschliessend auf dem Schiff antrafen, waren körperlich und psychisch am Limit. Sie waren einfach nur froh, dass sie die Strapazen überlebt hatten.
Unversehens fand ich mich in der Situation wieder, in der es darum ging, Menschen in einer Situation der Schwäche und des Ausgeliefertseins mit der Kamera zu begleiten. Auch hier stellte sich natürlich die Frage, ob es legitim ist, diese Menschen abzubilden. Wir konnten ja nicht jeden einzelnen von ihnen fragen. Oder müsste man nicht eher die Gesichter unkenntlich machen, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen? Es ist eine zweischneidige Frage. Denn ein solches Anonymisieren würde ihnen gleichzeitig das Gesicht (und damit vielleicht auch die Stimme) nehmen. Es wäre also ein Dienst an all jenen, die daran interessiert sind, Flüchtende als anonyme (gesichtslose) Masse und als abstrakte Zahlenreihen für ihre politischen Argumente zu benutzen.
Zum Glück war der Dreh auf dem Mittelmeer nur der Anfang unserer Arbeit. Wir begleiteten die Flüchtlinge in den folgenden Monaten an etliche der Orte auf ihrem Weg durch Europa, sei es ins «Ghetto», die illegale Barackenstadt in Süditalien, von wo aus sie, sklavenähnlich, als Schwarzarbeiter auf die Felder gebracht werden. Oder wir waren mit ihnen unterwegs in Richtung Norden, wo sie beispielsweise im Kanton Bern in einer unterirdischen Zivilschutzanlage ein vorübergehendes «Zuhause» fanden. Bei all diesen Begegnungen und in den Gesprächen wurde schnell klar, dass diese Menschen sehr wohl bereit sind, ihre Gesichter in einem Film zu zeigen und über ihre Schicksale zu sprechen. Und mir wurde im Laufe der Zeit bewusst, wie wichtig die Aussage von James Nachtwey war und immer noch ist: Es ist unsere Aufgabe, sie zu unterstützen, damit sie gehört werden und eine Stimme haben.
" />