Ich betrete das Restaurant Maron in Chur. Ich bin gespannt, wen ich treffe. Am Anfang stand eine Medienmitteilung der Stadtpolizei Chur, dass mehrere Personen wegen Hochdrehens ihres Automotors gebüsst wurden. Und das war beileibe kein Einzelfall. Jedes Wochenende muss sich die Stapo um solche Ruhestörungen kümmern – und kommuniziert sie fast schon gleichgültig in einem wöchentlich wiederkehrenden Déja Vu. Für Aussenstehende irgendwie nicht nachvollziehbar. Wer muss schon in der späten Samstagnacht irgendwo in der Stadt den Motor hochdrehen? Also wollte ich von der GRHeute-Facebook-Community wissen, was dahinter steckt. Antwort erhielt ich von Marco Z.*, der von sich behauptete, die Szene zu kennen und der einem Treffen zustimmte.
Ich setze mich in den hinteren Bereich des Cafés und warte. Nach wenigen Minuten kommt ein junger, vielleicht 25-jähriger Mann. Er stellt sich mir als Marco vor. Mein erster Eindruck: Ein gepflegter, nicht ungebildeter Mann, eigentlich ganz normal, kein Angeber-Typ, wie ich erst befürchtet hatte. Er wolle mit den Klischees aufräumen, sagt er, deshalb sei er hier. «Wenn uns schon mal jemand von der Presse zuhört», grinst er ironisch. Was denn hinter dem «Motoren hochdrehen» stecke, will ich von ihm wissen. «Letzten Endes ist es einfach. Das sind nur Rufe nach Aufmerksamkeit», sagt er kurz. «Das ist einfach geil, wenn man den Motor heulen hört und dann losdonnert».
Ein Ruf nach Aufmerksamkeit? «Denn sie wissen nicht, was sie tun», schiesst mir ins Bewusstsein. James Dean und seine halbwüchsigen Raserkollegen, ein legendärer Hollywood-Blockbuster, den die Generation von heute nicht mehr kennt. Und sofort macht das alles irgendwie Sinn. Es geht um Jugendkultur, um Abgrenzung, um Erwachsenwerden, um Provokation, Gruppenzwang und Machogehabe, darum, sich eine eigene Identität aufzubauen. «Die einen saufen jedes Wochenende, andere gehen jeden Tag ins Fitnesscenter», erklärt Marco, «wir stehen halt auf Motoren».
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Allerdings betont Marco, dass er selbst das «schon lange» nicht mehr in Wohngebieten mache. Es gäbe zwei Gruppen, sagt er, eine, die gerne über die Bündner Pässe rase und zu der er gehöre und eine, die sich in der Stadt treffe und nachts innerorts durch die Quartiere brettere. Diese hätten das Gefühl, ihnen gehörten die Churer Strassen, sagt er leicht verächtlich. Bei der Frage, um wen es sich bei den Stadtrasern handle, druckst er herum. Es wird klar, dass er die Frage nach Nationalitäten nicht gerne ins Spiel bringt. «Ich bin wahrlich kein Rassist, habe viele Freunde aus dem Balkan», wirft er voraus, «aber in der Szene weiss jeder, dass die meisten Secondos sind, die sich am Wochenende zum Beispiel in Chur Süd treffen, um dann die Muskeln ihrer aufgepeppten BMW spielen zu lassen.» Heikle Aussagen in einer Zeit, in der mit Argusaugen auf politische Korrektheit geachtet wird. Die Schweizer PS-Freaks hätten ihr Territorium eher auf andere Regionen, zum Beispiel auf die zahlreichen Passstrassen verlegt, sagt er. «In der Stadt in 50er-Zonen derart Gas zu geben, ist einfach nur krank und unverantwortlich», bekräftigt Marco, «auch wenn es mitten in der Nacht ist: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es schlimme Unfälle gibt.»
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Die Lärmemissionen, wenn die Jungspunde ihre Motoren aufheulen lassen, die findet Marco weniger schlimm. «Natürlich muss man das Pedal nicht gerade in Wohngebieten durchdrücken. Aber man muss auch verstehen, dass das für uns kein Lärm, sondern ein geiler Ton ist. Die Polizei versteht das nicht und jagt uns deswegen mittlerweile durch den halben Kanton – wie Schwerverbrecher. Das ist auch völlig unverhältnismässig.»
Die Polizei, das ist der erklärte «Feind» der PS-Fans. Ich google von Boulevardzeitungen entworfenen Begriff des «Balkanrasers» und finde einen Artikel in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte. «Handelt es sich dabei um einen tatsächlich vorhandenen Typus (nämlich den des jungen, männlichen Einwanderers aus einem ehemaligen Kriegsgebiet, der seinen Aggressionen am Steuer eines PS-starken Fahrzeugs freien Lauf lässt) oder handelt es sich eher um eine diskriminierende Bezeichnung der aufnehmenden Gesellschaft, die sich politisch instrumentalisieren sowie für die Entlastung der eigenen, «anständigen» Auto-Psyche nutzen lässt?», fragt der Artikel.
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Polizeimeldung vom 15. September 2018: «Ein Lernfahrer ist in der Nacht auf Samstag in Haldenstein mit einem entwendeten Auto verunfallt. Einer der Fahrzeuginsassen wurde dabei getötet und ein weiterer verletzt.» Der schreckliche Unfall vom Wochenende in Haldenstein trifft die Region. Der auf der Rücksitzbank sitzende 17-jährige Türke hatte keine Chance. Gefahren wurde das Auto von einem 18-jährigen Portugiesen, der mit dem BMW seines Vater auf einer Nebenstrasse nach Haldenstein «mit 120 km/h» in der Kurve die Kontrolle verlor – wie die anderen Insassen berichten.
Ob es sich dabei um eine der Churer Raser-Cliqué handelte, von der Marco gesprochen hat, ist nicht klar. Rund 100 Angehörige und Freunde haben sich am Sonntag in der Churer Altstadt vom tödlich verunglückten Teenager verabschiedet. Der «Blick» war auch dabei und hat die Gruppe fotografiert. Das Bild zeigt stolze, junge, trauernde Menschen.
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«Wir alle wissen, dass das Risiko mitfährt», hatte Marco bei unserem Gespräch vor einigen Wochen gesagt, «nach einem schlimmen Unfall hält man sich sicher ein paar Tage zurück, ist etwas vorsichtiger. Aber dann kommt das Bedürfnis nach dem Kick schnell zurück.» Auf der Blick-Frontseite, wo der Artikel über die Trauer-Gemeinde zu lesen ist, findet sich ein weiterer Artikel. «19-Jähriger rast mit 122 km/h durch die Stadt Luzern». Ich habe keine Lust, diesen anzuklicken. Marco selbst fährt übrigens weniger in seinem aufgemotzten Auto als früher. Seine erste Liebe ist seit längerem sein Motorrad. Damit sei man agiler und könne einfach schneller beschleunigen und navigieren, sagt der Churer. «Es gibt einfach nichts Geileres, als auf einer Passstrasse aus einer Kurve heraus zu beschleunigen und die Landschaft vorbeifliegen zu sehen.»