Dieser Beitrag erscheint in der Serie der HTW-Blog-Reihe. Text: Prof. Dr. Kerstin Wagner, Foto: Reuters
«Wir haben den Nachteil, dass die gesamte Kammer nicht bei Facebook ist», musste ein Richter in Bayern gestehen, als es um die Frage einer einstweiligen Verfügung gegen Facebook ging. Die Verhandlung drehte sich um den Fall eines Syrers, der ein Selfie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel aufgenommen hat – ein Foto, das seitdem auf Facebook immer wieder als Fotomontage für Ausländerhetze und Verleumdungen missbraucht wird.
In der Verhandlung wird offensichtlich, dass dem Richter die Unterschiede zwischen «Teilen» und «Inhalte melden», zwischen Löschen und Sperren nicht bekannt sind. Der Facebook-Anwalt betont, dass es keine «Wundermaschine» gibt, die 1.86 Milliarden Nutzerprofile auf Verleumdung hin durchsuchen kann. Der gegnerische Anwalt vermutet jedoch, dass diese Aussage nur dazu dienen sollte, die Unkenntnis der Richter in Sachen Facebook auszunutzen.
Solche bizarren Situationen passieren, wenn nationale Institutionen auf die neuen globalen Machtzentren treffen, die sich keiner nationalstaatlichen Kontrolle unterwerfen wollen.
Die traditionellen Institutionen verlieren an Macht und Bedeutung
‚Institutions […] structure political, economic, and social interaction‘
Welche Sitten und Gebräuche eine Gesellschaft hat, was für sie als Tabu gilt, wie man sich begrüsst oder Zeremonien wie Taufen und Beerdigungen begeht – all das sind informelle Regeln und Teile von Institutionen von Gesellschaften. Hinzu kommen die formalen Regeln: Die Verfassung, Verträge oder auch das Kartell- oder Strafrecht. Im Prinzip geben Institutionen den Rahmen und «Lösungen» für sämtliche Bereiche des Alltags vor.
Institutionen sind daher viel weitreichender als Organisationen: Organisationen sind eine Gruppe von Personen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und deren Regeln sich jeder Beteiligte unterwerfen muss – oder den Ausstieg wählen kann. Institutionen hingegen gelten (meist) für ganze Gesellschaften. Institutionen stellen die Leitlinien, Organisationen setzen sie in ihren Abläufen um.
Doch die klassische Institution gerät in die Krise. Institutionen sind nicht mehr unangetastete Autoritäten und bekommen von allen Seiten Konkurrenz. Wissen ist überall verfügbar und alles andere als knapp. Egal was wir suchen, wir finden es oft schneller selbst und entscheiden auch, was wir davon haben wollen und wieviel – und zwar an einem neuen Ort: auf Plattformen.
Der Aufstieg der Online-Plattformen
Plattformen bieten Zugang zu anderen Menschen (Freundschaften, Dates, Kunden, Geschäftspartnern, Personalvermittlern), zu Gegenständen (Bohrmaschinen, Autos, Wohnungen) und natürlich zu Wissen. Plattformen übernehmen die Aufgaben der Institutionen und sind das «dominierende Ordnungsprinzip» der Zukunft. Plattformen bringen sehr effizient Menschen und ihre Bedürfnisse zusammen, wofür früher traditionelle Institutionen notwendig waren, da nur sie den Wissensvorsprung besassen. Wo steht das nächste Taxi? Was ist die beste Anlage für mein Geld? Wo ist die schönste Ferienwohnung in Barcelona?
Plattformen verlangen zwar auch Standardisierungen (genau wie traditionelle Institutionen mit Formularen), sind aber viel differenzierter. So kann man auf Facebook neben weiblich / männlich zwischen 60 benutzerdefinierten Auswahlmöglichkeiten auswählen, die von «weiblich-transsexuell» über «androgyn» bis hin zu «intergeschlechtlich» reichen.
Warum sind Plattformen so erfolgreich?
Erfolgreiche Plattformen sind oft ein Netzwerk an Computern, die auf grosse Rechenleistung zurückgreifen und sich extreme Informationsasymmetrien zunutze machen können. Mithilfe ihrer Nutzer erzeugen sie Daten in ihrem Netzwerk, die sie auswerten und wiederum nutzen, um ihre Stellung weiterauszubauen. So lässt Amazon beispielsweise mithilfe eines Bot-Programms weltweit die Bücherpreise überwachen, um sicherzustellen, dass die Preise auf der Plattform nie unterboten werden. Diesen Informationsvorteil haben kleine Buchhändler nicht, wenn sie die Preise ihrer Bücher festlegen. Dies kann dann sogar dazu führen, dass Amazon bestimmte Bücher kostenlos anbietet, weil sie andernorts von einem Buchhändler als Teil einer Promotion angeboten werden. Auf diese Weise wird das Risiko auf kleine Verkäufer ausgelagert.
Hinzu kommen exponentiell wirkende Netzwerkeffekte: Der Nutzen eines Netzwerks ist für die Nutzer umso grösser, je mehr Leute sich an dem Netzwerk beteiligen und ihre Leistungen oder Informationen zur Verfügung stellen. Das ist auch der Grund, warum die meisten Hotels auf Booking.com zu finden sind. Sie gehen davon aus, dass die meisten Menschen auf Booking.com suchen, eben weil dort so viele Hotels vertreten sind. Apple-Produkte werden deshalb gekauft, weil es im Apple-Store so viele Apps gibt. Das grosse Interesse der Käufer wiederum motiviert Entwickler, neue Apps zu entwickeln und im App-Store zu verkaufen. Je mehr Daten eine Plattform erhält und verarbeitet, desto besser werden die personalisierten Suchergebnisse. Dies alles führt zu einem natürlichen Monopol und einem Gewinner, der alles bekommt (Winner-take-all-Märkte).
Zudem reduzieren Plattformen massiv die Transaktionskosten: Während man früher lange und kompliziert nach einem geeigneten Hotel für den nächsten Urlaub suchen musste und dafür lieber ein Reisebüro beauftragte, gelangt man mit einer Suchabfrage und ein paar eingegebenen Daten schnell zu einer Reihe an Treffern.
Was sind die neuen Strategien?
Alte Institutionen auf nationaler Ebene wie die oben beschriebene Gerichtskammer scheitern oft am Datenschutz, am Urheberrecht und an der rechtlichen Auslegung von Unrecht. Es braucht daher politische Strategien, um die Macht der Plattformen einzuschränken und die Nutzer stärker an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, denn schliesslich geht es ja um ihre Daten. Auch bei den alten Institutionen würden die Menschen Kontrollinstrumente besitzen, die dazu dienen, mitzubestimmen und deren Macht einzuschränken. Plattformen bieten diese eingebauten Kontrollmechanismen nicht an.
Prof. Dr. Kerstin Wagner ist Leiterin des Kompetenzfelds Digitale Strategien am Schweizerischen Institut für Entrepreneurship (SIFE) und Professorin an der HTW Chur.
Dies ist ein Blog-Beitrag der HTW Chur.