Ein eigentlicher «Zweitwohnungsschock» sei in den Berggebieten ausgeblieben, frohlockte am Montag die «Südostschweiz» fünf Jahre nach der Annahme der Zweitwohnungsinitiative. Bei näherem Hinsehen eine Fehldiagnose: die Abwanderung aus den Berggebieten hat sich verstärkt.
Über die möglichen Folgen der Zweitwohnungsinitiative wurde viel diskutiert. Von einer «nötigen Bereinigung» bis zu einem «totalen Kollaps» gingen die Prognosen. Aufgrund der Angaben aus der Baubranche berichtet die Südostschweiz zufrieden, die Bautätigkeit habe sich einfach vom Hoch- in den Tiefbau und von den Berggebieten in die tieferen Gebiete verlagert. Insgesamt seien im Bündner Bauhauptgewerbe nach der Zweitwohnungsinitiative zwischen 600 und 800 Stellen verloren gegangen; betroffen seien vor allem die Tourismusregionen. Also alles halb so wild?
Für die Berggebiete sieht die Realität freilich ganz anders aus. Zwar mag der Kollaps ausgeblieben sein, wer aber in einem Bergtal wohnt, Kinder in der Schule hat oder im Detailhandel tätig ist, hat über die letzten fünf Jahre gesehen, dass immer mehr junge Leute und junge Familien Graubünden verlassen haben.
«Innovation und Erneuerung brauchen alle Teile Graubündens»
Die Abwanderung aus den Berggebieten hat sich über das Baugewerbe hinaus beschleunigt und bedroht an vielen Orten die Dorfschule, das Regionalspital, den Dorfladen oder die Dorfbeiz. Unter den abgewanderten Bewohnern sind natürlich viele Berufsleute vom Bau. Mit ihnen sind aber auch ihre Konsumumsätze aus den Kassen der regionalen Wirtschaft verschwunden. Und damit gingen weitere Stellen verloren.
Ein Teufelskreis: jungen Bündnern aus allen Branchen wurde wirtschaftlich die Möglichkeit genommen, in ihrer Heimat zu bleiben. Sie arbeiten heute in einer Stadt im Unterland und kommen allenfalls am Wochenende heim. Aus Bündnern wurden Heimwehbündner. Viele von ihnen würden gern zurückkehren, wenn sie in Graubünden denn ein Auskommen finden würden.
«Jammern auf Vorrat» wurde mir nach der Abstimmung zur Zweitwohnungsinitiative vorgeworfen, als ich vor genau dieser Abwanderung und dem damit verbundenen «Brain Drain» aus den Bergen warnte. Leider ist er nun eine Realität; er findet jeden Tag statt und Rezepte dagegen sind rar.
Um die ausgewanderten jungen Bündner wieder zurückzugewinnen, müssen wir in die Zukunft unseres Kantons investieren. Das kann nur gelingen, wenn Wirtschaft, Politik und Verwaltung zusammenspannen. Nur gemeinsam können sie das Klima schaffen, um Innovation und Erneuerung wieder in allen Teilen Graubündens einzubürgern.
Verkehrswege, Datenleitungen, Schulen, Spitäler, Detailhandel und Gewerbezonen gehören in einem Seitental eben genauso zur wirtschaftlichen Überlebensgrundlage wie im dichter besiedelten Rheintal. Und natürlich müssen auch Hotels, Ferienwohnungen, Restaurants, Bahnen und Lifte, Beschneiungsanlagen, Loipen, Eisplätze, Trails, Wanderwege und Badeseen auf einem Stand sein, wie ihn die Gäste verlangen.
Die Zeit ist mehr als reif für einen Erneuerungsschub in Graubünden. Die Wirtschaft in der Schweiz und Europa läuft, die Währungssituation hat sich etwas entspannt und die Tourismusindikatoren zeigen wieder zaghaft nach oben. Jetzt ist es an uns, wieder verstärkt in unseren Kanton zu investieren. Baulich und in unseren Köpfen.