In den letzten Wochen und Monaten konnte man viel über die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (FSZM) in der Schweiz und insbesondere über die Vorreiterrolle des Kantons Graubünden erfahren. Eine Vorreiterrolle unter anderem deshalb, weil der Kanton einer der ersten war, der eine Korrektions- und Arbeitsanstalt (Realta) betrieb, wo seit 1840 «Liederliche und Arbeitsscheue» administrativ versorgt werden konnten. Aber vor allem auch deshalb, da die damaligen Direktoren der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Waldhaus, über Jahrzehnte hinweg, menschenverachtende Strategien entwickelt und umgesetzt haben – um diese „Unwerten“ kurz- und langfristig aus der Gesellschaft zu entfernen. Diese Strategie bildete viele Jahrzehnte lang auch den Taktgeber für alle Regionen des Kantons. Wer in diese Mühle geriet war meist chancenlos – teilweise wurden sie aller Rechte enthoben. Empathie und Mitleid kannte man nicht. Diese Versorgung in Anstalten oder Fremdplatzierungen, die noch bis in die späten 80er Jahre andauerten, war und ist heute noch von unvorstellbarer Tragweite. Hinzu kamen unzählige Kindsmisshandlungen und Gewaltanwendungen innerhalb der kantonalen Anstalten durch deren Angestellten.
Die von der Regierung in Auftrag gegebene Grundlagenstudie «Fürsorgerische Zwangsmassnahmen – Anstaltsversorgungen, Fremdplatzierungen und Entmündigungen in Graubünden im 19. und 20. Jahrhundert» von der Historikerin Tanja Rietmann liegt seit Frühling 2017 vor und darf als ein erster wichtiger Schritt betrachtet werden. Parallel zur Erarbeitung dieser Studie, aber völlig unabhängig voneinander, wurde das Buch «Schattenkind – wie ich als Kind überlebte», vom Bündner Autor Philipp Gurt veröffentlicht. Dieses Buch beschreibt die Innenansicht von Betroffenen. Somit ergänzt das Buch vieles, was in der wissenschaftlichen Grundlagenstudie nicht anhand Archivquellen erarbeitet werden konnte. Aus meiner Sicht ein wichtiges zeithistorisches Dokument. Das Buch ist seit November 2016 in den Bestsellerlisten – davon mehrere Monate auf Platz 1. Auch dies klar ein Zeichen dafür, dass die Zeit reif ist Klartext zu reden. Denn bis vor kurzem redete man lieber nicht über die Zeit der FSZM. Zugegebenermassen; es ist ja auch ein dunkles Kapitel. Aber mit der aktuellen Studie und dem Buch Schattenkind kann man in Graubünden nicht mehr wegschauen.
Schweizweit wurden für die noch lebenden Betroffenen bereits zwei wichtige Schritte unternommen. Auf der Ebene der sogenannten weichen Faktoren hat sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga für die ganze Schweiz entschuldigt. Bei den harten Faktoren läuft noch bis 2018 die Wiedergutmachungsinitiative, bei welcher jedes Opfer Anrecht auf maximal CHF 25’000 hat.
Was jetzt noch fehlt ist die Aufarbeitung innerhalb der jeweilig betroffenen Institutionen. Und die Anerkennung: ein Zeichen für die Betroffenen. Und zwar von der kantonalen Regierung. Es geht nicht um eine Entschuldigung für die Taten von Vorgängern und ehemaligen Chefs von kantonalen Anstalten. Es geht darum offiziell anzuerkennen und zu bestätigen, was geschehen ist. Dies ist für die Opfer sehr wichtig und die Zeit ist mehr als reif. So wird offiziell, dass es keine Einzelfälle waren, sondern Tausende. Die Regierung kann jetzt Verantwortung übernehmen und eine positive Haltung und Botschaft ausstrahlen indem sie ein würdiges Zeichen setzt. Wie diese Anerkennung aussieht, könnte die Regierung gemeinsam mit Betroffenen erarbeiten.
Denn mit einer Grundlagenstudie ist es nicht getan. Jetzt müssen die Folgemassnahmen eingeleitet werden. Die Zeit ist definitiv reif dazu. Es ist nur noch eine Frage der politischen Haltung!
Das Politforum auf GRHeute besteht aus 12 PolitikerInnen aus Graubünden. Jede Woche nimmt eine/r zu einem aktuellen Thema Stellung.
(Bild: GRHeute)