Eigentlich war am Donnerstagmittag eine kurze Biketour von Chur über den Polenweg nach Rothenbrunnen und zurück vorgesehen. Ein Blick rheinaufwärts Richtung Westen verhiess aber nichts Gutes. Dunkle Wolken hingen am Himmel und schon bald nach meiner Wegfahrt begann es zu regnen, sodass ich meinen Plan kurzerhand änderte und ohne konkretes Ziel rheinabwärts fuhr. Dies war der Anfang eines denkwürdigen Nachmittags, in dessen Verlauf ich zwei interessante Menschen kennenlernte, die mich in unterschiedlicher Art und Weise stark beeindruckten.
Auf der Geraden zwischen Zizers und Landquart fuhr ich auf einen Weggefährten mit wallenden Haaren und einem vollbepackten Tourenvelo auf, der mich eigentlich vorbeiwinkte, weil er dachte, dass ich viel schneller unterwegs sei als er. Dem war aber nicht so, sodass wir schon bald einmal miteinander ins Gespräch kamen. Er stellte sich als Hardy Bucher vor, der in Thun wohnt und sein Geld als Sozialarbeiter verdient. Er war anfangs der Woche über den Pragelpass vom Muotatal im Kanton Schwyz ins Klöntal im Kanton Glarus, dann über den Kerenzerberg und zuguterletzt noch über den Albulapass ins Engadin gefahren, wo er anlässlich der Jubiläumsausgabe des Festival da Jazz am Mittwochabend auf Muottas Muragl dem Konzert von Jamie Cullum beigewohnt hat, das übrigens kostenlos war.
Vom Engadin ins Berner Oberland und vom Münstertal nach Genf
Nun war der Kultur- und Sportbeflissene, der unter anderem fünf Monate in einem Flüchtlingslager auf Lesbos gearbeitet hat, auf der Heimfahrt, wobei er vor unserem zufälligen Zusammentreffen immerhin schon den Julierpass bewältigt hatte. Ich beschloss, ihn zumindest bis nach Sargans zu begleiten, um dann allenfalls über den St. Luzisteig wieder nach Chur zurückzukehren.
Bei Sargans begann es wieder heftig zu regnen, sodass wir kurz vor Mels in einer Bushaltestelle Unterschlupf fanden und uns verpflegten. Plötzlich überquerte ein junger Mann mit einem Helm auf dem Kopf, ein Longboard, das heisst ein verlängertes Rollbrett in den Händen tragend und einem riesigen Rucksack auf dem Rücken die Strasse, gesellte sich zu uns und fragte uns nach dem Weg nach Walenstadt, den wir ja ebenfalls unter die Räder nehmen wollten. Denn ich hatte mich entschlossen, meine Fahrt mindestens bis an den Walensee zu verlängern.
Während mein Bikekollege vom Engadin zurück ins Berner Oberland radeln wollte, war der beim Club 72 Köniz Handball spielende und in Liebefeld wohnhafte Gymnasiast Loic Müller drauf und dran, mit seinem Longboard die Schweiz von Osten nach Westen, das heisst von Müstair in der Nähe des Piz Chavalatsch nach Chancy im Kanton Genf zu durchqueren, was einer Wegstrecke von 564 Kilometern entspricht. In seinem Blog berichtet er tagtäglich über diese abenteuerliche Reise, wobei er alles, was er zum täglichen Leben braucht, in seinem Rucksack mitträgt, der rund 10 Kilogramm wiegt. Die Nächte verbringt er jeweils in seinem Zelt auf Campingplätzen.
Am vergangenen Montag ist der sportliche Mittelschüler, der über diese Reise seine Maturaarbeit verfassen will, in Müstair gestartet. Mit dem Ofenpass stand ihm gleich die erste Herausforderung bevor, die er mit Bravour bewältigte. Am nächsten Samstag hofft er, sein Ziel in der Westschweiz erreicht zu haben.
Während unseres kurzen Gesprächs an der Bushaltestelle im St. Galler Oberland erzählte er uns von der Begeisterung, die ihm unterwegs viele Leute für sein Vorhaben entgegengebracht haben, aber auch vom Zusammentreffen mit einer Polizeipatrouille, die ihn auf der rasanten Abfahrt von Davos Wolfgang nach Klosters gestoppt und von der Nationalstrasse N28 auf einen Wanderweg verbannt hat. Er kam auch auf seine Materialprobleme zu sprechen, zum Beispiel auf seinen durch das Bremsen auf dem harten Untergrund bereits nach 3 Tagen durchgescheuerten rechten Schuh oder den bisweilen leeren Akku seines Handys, der die Orientierung drastisch erschwerte.
Da der Regen unterdessen etwas nachgelassen hatte, machte sich unser wagemutiger Longboard Traveller wieder auf den Weg in Richtung Walenstadt, wobei er bei unserem Überholmanöver mit einer Geschwindigkeit von knapp 20 km/h unterwegs war. Auch wir beide setzten unsere Biketour fort, zumal sich das Wetter nun entscheidend gebessert hatte und der Walensee sich mit seiner blaugrünen Farbe mit dem zunehmend wolkenlosen Himmel duellierte.
Weil es so zügig voranging und die Müdigkeit noch kein Thema war, liessen wir Walenstadt hinter uns und fuhren gemeinsam dem Gletscherrandsee mit seinen steilen Ufern entlang Ziegelbrücke entgegen, wo ich nach einer Fahrstrecke von 60 Kilometern eigentlich den Zug zurück nach Chur besteigen wollte.
Der eine ist am Ziel, der andere noch unterwegs
Nach einem Zwischenhalt beim Bahnhof verabschiedeten sich Hardy Bucher und ich voneinander und mein vorübergehender Gefährte machte sich allein auf den Weg in Richtung Thun. Wie er mir am Freitag am Telefon erzählte, übernachtete er am Donnerstagabend in Sihlbrugg, wechselte in der Nacht noch einen platten Reifen und erreichte am späteren Freitagnachmittag wohlbehalten seinen Wohnort.
Loic Müller dagegen verbrachte die Nacht nach einem erfrischenden Bad im Walensee auf dem Campingplatz in Murg und legte am darauffolgenden Tag nicht weniger als 65 Kilometer bis zum Camping Sihlwald in Zürich zurück. Wie es ihm bisher erging und welche Überraschungen ihn in den nächsten Tagen noch erwarteten, kann man unter longboardtraveller.com nachlesen.
Ich selbst stieg dann nicht wie ursprünglich geplant in Ziegelbrücke, später auch nicht in Sargans oder in Landquart in den Zug ein, sondern fuhr die 60 Kilometer trotz aufkommender Müdigkeit und stärker werdenden Sitzbeschwerden, jedoch um einige wertvolle Erfahrungen reicher, auf den eigenen zwei Rädern wieder nach Chur zurück.
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(Bild: Jürg Kurath)