Legenden: Michael Gertschen im grossen Interview

Wenn er in die Tasten drückt, schreibt er Bündner Musikgeschichte, wenn er spricht, hört es sich an als wäre man im tiefsten Wallis gelandet. Die Rede ist von keinem geringeren als Michael Gertschen. Der Scharanser hat nicht nur für seine Bands Bündnerflaisch und Abbazappa in die Tasten gegriffen, er ist in der Musikszene Schweiz kaum mehr weg zu denken. Wir haben ihn zu seinem neuen Projekt interviewt.

77 Bombay Street, Michael von der Heide, Mash, Gimma, Sandee, und und und… Was nach einer Musikpreisverleihung tönt, ist nur ein Teil von den Künstlern mit denen der Scharanser Musiker Michael Gertschen bereits zusammen gearbeitet hat. Nun hat er mit Secondo Cuore ein Konzeptalbum mit 10 italienischen Liedern veröffentlicht. Allerhöchste Zeit mit der Legende ein Interview zu führen.

Zuerst mal, wie steht’s eigentlich um Bündnerflaisch?

Gut. Wir arbeiten an neuen Songs.

Wird es irgendwann wieder ein Album inklusive Tour von euch geben?

Es werden sicher neue Lieder von uns zu hören sein. Und – obwohl wir eigentlich kein Album mehr machen wollten – kann es durchaus sein, dass es wieder mal eines geben wird. Auftritte sind im Moment keine geplant, weder in der Duo-, noch in der grossen Formation.

 

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Ihr habt zuvor auf euren Alben zumeist einen italienischen Track veröffentlicht, hast du da Blut geleckt?

Nun ja, Blut lecken braucht man nicht mehr gross, wenn man italienische Wurzeln hat. Ich habe mich während der Songwriting-Zeit intensiv mit Italienisch auseinandergesetzt und mit Greco die ersten Refrains getextet. Über wenige Ecken entstand zu der Zeit auch der Kontakt zu Giuseppe Cristaldi, ein Schriftsteller, der auf Sardinien wohnt und ursprünglich aus dem gleichen Dorf wie Greco’s Vater stammt. So haben sich von Anfang an „günstige Teile“ immer mehr zu einem Projekt zusammengefügt.

Wie viel Italiener steckt in dir?

Immer mehr :-). Ich bin Doppelbürger, bin also Schweizer und Italiener. Natürlich bin ich in der Schweiz aufgewachsen und fühle mich dementsprechend schweizerisch. Die Arbeit am Album hat mich der italienischen Seite sicher näher gebracht, als es bisher war. So gesehen ist eines der letzten günstigen Teilchen, der Titel, schlussendlich sehr treffend.

Was erwartet die Hörer auf deinem neuen Album?

10 Lieder, musikalisch so reichhaltig wie das Leben selbst: italienischer Pop verschmilzt mit Elementen von Reggae, Brit-Pop, Rap, Latino-Pop und nahöstlichen Einflüssen. Gesungen werden sie von unverwechselbaren, berührenden und voluminösen Stimmen: von Sergio Greco (Bündnerflaisch), Lou Zarra (Lou Geniuz), Daniela Sarda (True), Mauro Corchia (Fusion Square Garden/Morò), Luca Ariu (Major B.) und Salvatore Ciccone (Cigi). Sie alle leben, wie ich, in der Schweiz und haben ihre Wurzeln in Süditalien.

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Die Texte von «Secondo Cuore» dringen ein in das Wesen des Lebens, schildern von den Höhen und Tiefen menschlicher Emotionen. Sie erzählen von Sommer, Meer und Liebe, aber auch von Abschied, Schmerz und Verzweiflung. Es sind Geschichten über das Schicksal vergessener Migranten auf dem brennenden Flüchtlingsboot (Fumo), die Klagen des obdachlosen Bettlers, der nichts besitzt ausser seinem Herz (Señor), von Melancholie, wenn die Beziehung an Untreue zerbricht, und der Kraft, weiterzufahren (Non sai più essere mia) oder der Sehnsucht nach Liebe, die nicht erwidert wird (Piove ancora). Es sind Erzählungen voll Leidenschaft: von der Liebe zur Musik und zu seinem Kind (Sarai me), vom Wunsch zusammen zu träumen (Sogna con me), vom lodernden Verlangen des Tangos (Notte di Cordoba) oder vom Kokettieren in wildem Tanz (Gira l‘amore). Und es sind nachdenkliche, schon fast philosophische Betrachtungen unseres eigenen Lebens: der Komik, wie das Leben – einer Schaukel ähnlich – immer höher Richtung Himmel schwingt (Altalena) und der Gefahr, stehenzubleiben während die Liebe des Lebens verwelkt (Sfiorisci così).

Wie war die Arbeit daran?

Sehr schön. In den letzten Jahren reiste ich immer wieder nach Bern zu Matthias Urech. Er ist mit Leib und Seele Musiker (Troubas Kater, Fusion Square Garden), Produzent und hat einen riesigen Kontaktkalender an professionellen Studiomusikern, die gerne zu ihm ins Studio groovefactory kommen. So habe ich über ein Dutzend Musiker kennengelernt und es genossen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu arbeiten. Es sind gute Freundschaften entstanden. Legendär bleibt der Aufnahmeabend des „Gira l’amore“, was dementsprechend auf der Aufnahme gut hörbar ist.

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Für das Booklet war Theo Klingele, ehemaliger WG-Mitbewohner, Grafiker in Luzern (creadrom) zuständig – entstanden ist ein Wandbild mit vorgedruckter Oese, mit schönen Fotos von Jan Holler, mit dem ich schon Jahrzehnte eine Freundschaft pflege.
Wie gesagt, es haben sich viele günstige Teile zusammengefügt und schlussendlich ein Ganzes ergeben – du läufst mit den ersten los, und dann stehst du oben auf dem Berg und blickst zurück auf den Weg, der hinter dir liegt. Obwohl du zu Beginn gar nicht wusstest, dass du da rauf gehst.

 

Sind ja relativ viele Sänger und Musiker involviert. Wann hören wir mal ein Lied komplett von dir gesungen?

Singen gehört nicht zu den Stärken, die ich besonders pflege. Dementsprechend wird das nicht der Fall sein.

Du wohnst seit Jahren in Scharans. Wie inspiriert dich die Gegend?

Ich empfinde es als Privileg, in einer so schönen Region wohnen zu können und fühle mich in meinem Umfeld sehr heimisch. Das überträgt sich sicher auch auf meine Musik.

In einer früheren Bündnerflaisch-Bandvorstellung stand, du hättest noch drei/vier Alben bereits geschrieben. Wie viele Tracks liegen bei dir auf dem Mac?

Du musst dir darunter keine pfannenfertigen Tracks vorstellen. Es sind viele Ideen und Songskizzen, an denen ich immer wieder weiterarbeite, verändere, etc. Keine Ahnung, wie viele, an die hundert, vielleicht.

Wie sind die ersten Reaktionen auf dein Werk?

Durchwegs positiv. Oft erhalte ich das Feedback, dass die Lieder dich aufstellen und zum Mitsingen einladen. Ideal für eine gemütliche Reise in den Süden. Radio Rumantsch hat „Sfiorisci così feat. Greco“ in ihr Programm aufgenommen, und seit kurzem ist „Sarai me feat. Morò“ auf der Playlist von Radio SRF1. Das freut mich natürlich sehr und ich hoffe, noch mehr Menschen mit meiner Musik zu erreichen.

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Du hast mit diversen Künstlern zusammen gearbeitet, was sind die bisher schönsten Erinnerungen an dein Schaffen?

Da gibt es viele schöne Momente, an die ich mich gerne erinnere, wie das „Making of“, als das halbe Dorf in der Turnhalle das Scharanserlied aufnahm.

An welchen sonstigen Projekten arbeitest du aktuell?

Für gewöhnlich sind das so zwei bis drei Projekte, die ich gerne parallel verfolge. Im Moment arbeiten Greco und ich an neuen Bündnerflaisch-Songs, dann ist ein Zeitraffer-Videoclip mit einem Song auf Romanisch am Entstehen. Daneben nimmt die Promoarbeit fürs Album auch seine Zeit in Anspruch.

Führst du eine Liste mit allen Liedern, die du inzwischen geschrieben hast?

Nein. Ich melde ich sie bei Suisa und Co. an und diese Instutionen führen dann die Liste.

Gibt es so eine Top 5 von Eigenkompositionen, die du immer wieder anhörst?

Auch leider nein. Ich höre Eigenkompositionen oder Songs, an denen ich mitgearbeitet habe, nach der Veröffentlichung kaum, oder weniger mehr.

Wo kann man dich und Greco in nächster Zeit wieder live sehen?

Wir machen in Sachen Live dieses Jahr eine Pause.

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Foto Jan Holler

Weitere Infos unter www.michaelgertschen.ch