Kürzlich durchforstete ich mein Archiv und fand darin unverwendete Perlen. Nun werde ich in unregelmässigen Abständen hier auf GR Heute, Geschichten, Gedichte und anderes Chrüsimüsi publizieren. Diese Perle hier stammt aus dem Jahre 2015. Viel Spass damit!
Über Stil und Charakter oder es ist gar nicht so schwer kein Schwein zu sein (Herbst 2015)
Ich könnte jederzeit auf die Wahrheit pochen und Lügen auffliegen lassen. Doch meistens sitze ich daneben und geniesse das Entertainment der Laienschauspieler. Es erinnert mich stets an die Vorhersehbarkeit einer Seifenoper im Stil von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Auch wenn zuerst mein Temperament mit rasantem Tempo hochkocht und ich massiv hässliche Massnahmen in Erwägung ziehe, schwillt der pure Hass relativ schnell wie bei einer Verstauchung wieder ab.
Anfangs wartete ich auf den grossen Tag der Abrechnung, bis ich realisierte, dass jeder irgendwann seine gerechte Strafe erhält und das Karma keinen verschont. Hin und wieder habe ich es bei meinen Feinden gesehen, doch vor allem bei mir selbst richtig realisiert. Denn wer sich selbst belügt und/oder Unwahrheiten verbreitet, erhält irgendwann eine fette Quittung.
Ich kann mich und die Menschen in meiner Umgebung nicht belügen und dann erwarten, dass alle mir die Wahrheit ins Gesicht werfen. Genauso kann ich nicht alles mit einem Schatten an Negativität überziehen und darauf hoffen, ich werde zu einem Freudenfest eingeladen. Die Quintessenz diesem Sammelsurium an Lebenserfahrungen ist schön und gut, aber auch wahnsinnig schwierig in die Tat umzusetzen. Denn obwohl reden zufriedenstellend als Silber durchgeht, ist Schweigen in gewissen Situationen erstrebenswert zur Findung seiner eigenen Mitte.
Denn:
-Wie gerne würde ich mich über Politiker auslassen?
Verpasse aber die Hälfte der Wahlen.
-Wie gerne lache ich über braune Witze?
Bin jedoch froh, dass ich so viele tolle Menschen mit Migrationshintergrund kennenlernen darf.
-Wie gerne würde ich mich wieder über meinen schmalen Lohn auslassen?
Bin aber immer zu faul wirklich etwas an der Situation zu ändern.
-Wie gerne lasse ich mich über die Unzulässigkeiten meiner Ex-Freundinnen aus?
Doch ich habe jede der Frauen auch einmal geliebt.
-Wie gerne kritisiere ich Menschen mit mehr Erfolg? Bew
undere diese Personen jedoch heimlich und wäre gerne gleich erfolgreich wie sie.
Diese Liste ist endlos und füllt sich jeden Tag von neuem mit neuen Anekdoten. Es kommt mir so vor, als hätte jeder in der heutigen Zeit stets eine Meinung zu jedem Thema auf Lager. Doch was verloren geht in diesem Wirrwarr aus Lügen, Lästereien und Häme sind Werte wie Stil und Charakter. Wie mein Vater immer sagte, man kann nicht auf jeder Hochzeit tanzen. Zuhören statt reinreden, abwägen statt brüllen, auch mal einstecken und schweigen, anstatt beleidigend Front bieten. Der Feind der heutigen Zeit sind Verallgemeinerungen und Mitschwimmen im Strom.
Schweigen ist nicht nur Gold, sondern Verschwiegenheit in dieser lauten Zeit hat Stil. Charakter ist nicht gegeben oder anerzogen, sondern kann täglich trainiert werden und muss es auch.