Buchtipp: «Weit über das Land» von Peter Stamm

Seit 1990 arbeitet Peter Stamm (53) als freier Autor. Nach seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen vier weitere Romane, fünf Erzählsammlungen, Theaterstücke und Hörspiele. Seit Februar dieses Jahres ist sein neustes Werk erhältlich: der Roman «Weit über das Land». Ein weiteres Meisterwerk über Lebensfragen, die Suche nach sich selbst und verborgene Sehnsüchte.

Der Wunsch, dem eigenen Alltag zu entfliehen

Die Geschichte beginnt mit der Beschreibung eines Gartens, des Gartens von Thomas und Astrid. Die Dunkelheit lässt die Gebüsche wie Mauern wirken und verwandelt den gesamten Garten in ein dunkles Verlies. In einen Ort, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt. Und doch: Thomas steht auf. Und geht. Er verlässt seine Frau Astrid und ihre beiden Kinder. Soeben ist er mit Astrid noch draussen vor dem Haus auf der Holzbank gesessen. Sie haben Wein getrunken und sich die Sonntagszeitung geteilt. Zwei gemeinsame Wochen Familienurlaub am Meer liegen hinter ihnen. Und alles war wie immer. Keine Streitereien. Keine weltbewegenden Geschehnisse. Ruhe. Entspannung. Alltag und Gewohnheit. Doch trotz Familienidylle muss er wohl immer irgendwie dagewesen sein, der Wunsch, dem eigenen Alltag zu entfliehen, ein anderes Leben zu führen. Frei und ganz sich selbst zu sein.Weit

Thomas geht und geht. Weit über das Land. Mit ein bisschen Bargeld und der Kreditkarte in der Tasche. Den Weg beschreibt Stamm malerisch und genau. Der Leser wird auf eine Reise mitgenommen. Eine Reise in die Vergangenheit und zu den Erinnerungen von Thomas. Von seiner Kindheit, über das Kennenlernen seiner Frau Astrid bis hin zu ihrem heute so ausdruckslosen Blick. Thomas scheint sich der Liebe seiner Frau schon lange nicht mehr sicher zu sein und beginnt sehr schnell, über Astrids Reaktion auf sein Verschwinden zu spekulieren. Seine Vermutungen gehen über in eine Erzählung. In eine Erzählung darüber, wie und wann Astrid sein Verschwinden bemerkt und wie sie nach Erklärungen für seine Abwesenheit sucht. Astrids Ruhe wandelt sich im Laufe der Zeit. Sie beginnt gedanklich das Leben mit ihm zu teilen. Mehr als sie es wohl vorher tat.

Zwischen Wirklichkeit und Traum

Wann handelt es sich bei Stamms Geschichte um das, was wirklich passiert? Wann ist der Gedanke Wirklichkeit? Wann die Wirklichkeit ein Gedanke? Ein spielerisches Schreiben, das aufzeigt, dass jede Geschichte mehrere Ansichtsseiten und Realitäten haben kann.  Und dass man sich weit ab vom Alltag auf einmal die einfachsten Fragen stellen kann wie «Hat mein Mann jemals eine Brille getragen?». Das eigentlich so Offensichtliche wird erst ausserhalb des Alltags sichtbar. «Ein Foto für die Fahndungsdatenbank? Er hat zwar Fotos von mir gemacht. Ich aber nur von unseren Kindern.» Angst, Scham, Hoffnung, Trauer und Hilflosigkeit: Eine Geschichte voller Emotionen. Eine Geschichte über das Nicht-wahrhaben-wollen, über Nähe und Distanz, über Erkenntnisse und über die Suche nach Liebe und Zuneigung und gleichzeitiger Freiheit.

Stamm

 

(Bild: zVg.)