Stille Wasser gründen tief

Livio Wellinger ist ein eher unauffälliger Mensch. Lange Zeit trug er seine Haare bis weit über die Schultern und offen. Vor etwas mehr als einem Jahr hat er sich dem System gebeugt und trägt sie seither kurz. Er ist still und ruhig, wählt seine Ausdrucksweise mit Bedacht und lässt sich eher selten zu politischen Parolen hinreissen. Es gibt nur ein Thema, neben seiner Freundin, welches den loyalen Zuhörer zu grösseren Diskussionen hinreisst: Die Musik.

Denn hinter der Fassade des staatlichen Mannes ist eine grosse Chronologie an Musikwissen versteckt. Er ist praktisch seit Tag eins Tonträgerverkäufer im Media Markt Chur und Anlaufstelle für jeden Suchenden und Musikinteressierten. Livio weiss, auf welcher CD die grossen Hits versteckt sind und welche Silberlinge eher mit Füllmaterial vollgepackt sind. 

Was viele nicht wissen ist, dass der Vollblutmusikfan seit Jahren im Untergrund selbst mitmischt und das Nischengenre Slam-Metal bedient. Er war ausserdem als Produzent für den Rapper SBS tätig und schreibt, wenn er es dann so will, auch hin und wieder ausgezeichnete Popsongs. 

Wellinger breit

Er ist GRHeute Red und Antwort gestanden. Selten kriegt man einen Interviewpartner vor das Mikrophon, der so in der Materie verwurzelt ist und die ganze Entwicklung der schwächelnden Musikindustrie hautnah miterlebt hat.

Du fristest mit deinen Bands Slamentation und Bodysnatch eher ein Nischendasein. Wie gross ist die Szene in diesem Genre?

Überraschenderweise ist die Szene doch ziemlich gross. Vor allem finde ich es immer wieder imposant, wie global die Szene vernetzt ist. Wie eine kleine Familie eben, man kennt sich, hilft sich und trifft sich. Aktuell wächst die Szene in Indonesien beispielsweise gerade gewaltig. Von da kommen momentan echt viele coole Bands… beeindruckend, wie sich die Szene in den letzten 15 bis 20 Jahren entwickelt hat.

Trotz breitgefächertem Know-how bleibst du deinem Stil treu. Im Genre Slam Metal geniesst du mit beiden Bands grosse Popularität, wie hat sich dies entwickelt?

Nun ja, «grosse Popularität» würde ich nicht sagen. Es gibt derart viele Bands in der Szene, da ist es nicht gerade einfach, sich zu behaupten, bzw. auch als Fan den Überblick zu behalten. Wir haben aber mit beiden Bands definitiv weltweit eine solide Fanbase, das ist wichtig. Zudem ist Bodysnatch keine typische Slam Death Metal Band, deshalb gibt es auch viel Unverständnis uns gegenüber. Wir sind und waren immer gewillt, andere Genres einfliessen zu lassen, das kommt nicht überall gut an. Andererseits hilft uns das enorm, uns von der Masse etwas abzuheben. Das merkt man schon.

Dein Musikwissen ist extrem gross. Zu welchem Stil hast du bisher keinen Zugang gefunden?

Mit Schlager und Volksmusik konnte ich nie etwas anfangen. Scheint fast ein Klischee zu sein, dass man sich diese Art der Musik als Metal Fan möglichst vom Leib hält. Das trifft wohl auch auf mich zu. Ansonsten bin ich für alles offen und äusserst neugierig, was neue Musik angeht.

Du bist an der Quelle der Musik, welche Musiker dürfen in keiner Sammlung fehlen?

Man entdeckt natürlich immer allerhand Neues. Das fasziniert mich. Musikalisch bin ich letztendlich überall zu Hause und beschränke mich nicht auf Metal. So viel ist sicher. Ich höre privat unter anderem sehr gerne Jazz und Blues. Gerne auch Country, Punk, elektronische Musik und Hip Hop. Auch im Bereich Pop und Rock findet man in meiner Sammlung allerhand. Zur Zeit hat es mir under anderem das Album «Jazz For The Thinker» von Yusef Lateef wieder sehr angetan. Jazziger Hip Hop wie Guru’s Jazzmatazz, Digable Planets oder Jazz Liberatorz läuft bei mir momentan auch hoch und runter. Alben, die ich auch gerade ziemlich cool finde sind «Ivy Tripp» von Waxahatchee oder «My aim is true» von Elvis Costello. Ach, das wechselt bei mir immer so schnell, ich könnte hier eine umfassende Aufzählung machen, aber ich denke das lassen wir mal, haha. Das sind immer so Phasen und dann habe ich wieder Bock auf was anderes. Und das ist gut so.

Du bist mit der ganzen Musikszene Graubünden per du. Spürt man da als aktiver Förderer im Verkauf einen gewissen Respekt der Musiker?

Ich bin, ehrlich gesagt, generell nicht so häufig an Musikanlässen anzutreffen. Das war schon immer so. Ich bastle lieber im stillen Kämmerlein an meinem eigenen Musikzeugs rum und tauche eher spärlich in die lokale Musikszene ein. Das ist aber durchaus nicht respektlos gemeint. Ich war schon immer ein Einzelgänger. Nichtsdestotrotz kennt man sich natürlich und tauscht sich aus. Gegenseitiger Respekt ist auf jeden Fall spürbar.

Wie hat sich der Tonträgerverkauf seit Beginn deiner Zeit als Verkäufer entwickelt? Wie ist deine Diagnose für die nächsten zehn Jahre? Wird die CD als Medium komplett vom Markt verschwinden?

Glücklicherweise habe ich noch die glorreichen Zeiten des CD- und DVD-Verkaufs miterleben dürfen. Ich denke, allen ist klar, dass das Downloaden nicht mehr wegzudenken ist. Jahrelang habe ich mich massiv gegen diese Entwicklung gewehrt. Mittlerweile habe ich mich aber mehr oder weniger damit arrangiert. Man kann es wohl kaum aufhalten, wenn selbst die Industrie unlängst neue Wege geht und den Endkonsumenten direkt ansteuert. Was ich hingegen bedaure, ist die Tatsache, dass sich jüngere Hörer öfters mit sehr schlechter Soundqualität zufrieden geben. Streamen hin oder her, mp3s etc… alles gut und recht, aber um Himmels Willen, hört euch das Zeugs wenigstens in annehmbarer Qualität an! Ist doch schade um die Musik. Aber wen wundert’s, Musik scheint je länger je mehr zum Wegwerfprodukt zu werden.

Eine Diagnose zu treffen bleibt schwierig. Ich denke, es wird noch eine ganze Weile CD- und DVD-Käufer geben. Ähnlich wie bei den Schallplatten, die bekanntlich längst ein Revival feiern. Gerade da erlebe ich immer wieder, wie sich die junge Generation interessiert der Welt des Vinyls öffnet. Viele unserer LP-Käufer sind kaum älter als 22 Jahre. Das ist bemerkenswert und freut mich sehr. Denn bei den Schallplatten ist immerhin ein schöner, warmer Klang gewährleistet. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass physische Medien irgendwann verschwunden sein werden und eher als Exoten gehandelt werden. Bis dahin bleibe ich standhaft und mache meinen Job weiterhin sehr gerne. Der endgültige Todesstoss kann in 5 Jahren kommen, aber auch erst in 15 Jahren. Wir werden es sehen.Wellinger2

 

(Bilder: zVg.)