«Wir haben den Tourismus dem Auto zu verdanken»

Grosser Bahnhof für das Auto: Graubünden feiert dieses Jahr 100 Jahre Auto fahren. Mit einer Lastwagen- und Oldtimer-Parade, einem Autokorso und einer Podiumsdiskussion auf einer Eisenbahnwiese. 

Graubünden, 2025: Man nervt sich über die Staus und die Ausweichler:innen. Fast wünschte man sich frühere Zeiten zurück, von denen Gabriela Binkert Becchetti am Sonntag an einer Podiumsdiskussion im RhB-Park in Chur erzählte: Bis 1925 fuhren Leute, die durch oder in das Münstertal fahren mussten, bis zur Grenze mit dem Auto. An der Grenze wurden sie mit einer Pferdekutsche abgeholt, die das Auto hintennach schleppte. Es waren damals natürlich weniger Autos, aber man stelle sich dieses Bild einmal als Stau vor. 

Von 1900 bis 1925 war Autofahren in Graubünden verboten. Neun Mal wurde darüber abgestimmt – nur von Männern, weil Frauen noch nicht wählen durften – bis das Verbot fiel. Alsdann kurvten dann Automobile durch die Täler. Die Verkehrsregeln waren minimal: Ausserorts galt Tempo 40, innerorts Tempo 12. Heute sind in Graubünden gut 120’000 private Autos angemeldet. 

Ein Mann. Ein Auto. 

Im Chur des 21. Jahrhundert sind die Bahnhof- und die Poststrasse seit gefühlt immer autofrei. An diesem Sonntag spielen sie Parkplätze: Auf der Poststrasse sind die Lastwagen aus dem letzten Jahrhundert abgestellt, auf der Bahnhofstrasse die Oldtimer. Und, als besonderen Leckerbissen für die Kinder der 90er Jahre: K.I.T.T., das sprechende Auto aus Knight Rider. Der hätte sich mit dem Super Pursuit Mode locker vom Bahnhof zum Postplatz werfen können.

Auf der RhB-Wiese trafen sich neben der Gemeindepräsidentin von Val Müstair auch Neo-Stadtrat Simon Gredig, ACS-Präsident Luzi Willi und Pro-Alps-Präsidentin Nara Valsangiacomo unter der Gesprächsleitung von Moderatorin und Journalistin Stefanie Hablützel. Welche Rolle spielten oder spielt das Auto in ihrem Leben? Simon Gredig sagte, er sei autofrei aufgewachsen – was er mit Wissen über Autos kompensiert hätte. Das Wissen holte er sich, wie Luzi Willi, der sich als Auto-Enthusiast bezeichnete, in den Autoquartetten. Und während Simon Gredig bis heute kein Auto besitzt, stehen bei Luzi Willi 23 in seiner Garage «V8». Gabriele Binkert Becchetti hingegen fährt mit ihrem Mann Oldtimer-Rallyes, wobei er für die Technik und sie für den Weg zuständig ist. 

Anders als in Graubünden ist das Auto-Jubiläum in Nara Valsangiacomos Heimat Tessin kein Thema. «Es ist ein Teil der Freiheit», sagte vor dem zahlreich erschienen Publikum. «Aber es bedeutet auch Verantwortung.» Für Luzi Willi ist das Auto ein technisches Kulturgut des 20. Jahrhunderts – so wie es die Eisenbahn im 19. Jahrhundert war. Und für Gabriela Binkert Becchetti ist das Auto der Grund, warum der Tourismus in Graubünden überhaupt aufgekommen ist. 

Aber wie soll der Verkehr geregelt werden? Nara Valsiangiacomo diskutiert im Moment innerhalb der Pro Alps eine Maut. 100 Franken für Touristen, die von Süddeutschland nach Italien reisen wollen. Gabriela Binkert Becchetti sieht praktische Gründe dagegen und erwähnt den vielleicht daraus entstehenden Ausweichverkehr. «Es würden nicht weniger Autos durch die Schweiz fahren», sagte sie. Für Simon Gredig hingegen ist es ein grosser Unterschied, ob man mit einer Flatrate von 40 Franken das ganze Jahr durch die Schweiz kurven kann oder für 100 Franken nur ein Mal. Luzi Willi meinte dazu, dass der Transitverkehr viel zu billig sei. Würden die Touristen von Süddeutschland nach Italien nämlich 100 Franken pro Fahrt zahlen müssen, nütze das niemandem: «Sie lösen dann keine Vignette mehr und fahren auf der Hauptstrasse in den Süden.» 

Die Podiumsdiskussion dauerte insgesamt eine Stunde und war extrem interessant – vor allem zeigte sie auch, wie sich die Beziehung zum Auto verändert hat. War es früher nur den Reichen vorbehalten, ist es heute für praktisch jeden erschwinglich. Oder wie Simon Gredig es sagte: «Der Freiheitsbegriff hat sich extrem verändert. Auto ja oder nein ist heute kein Thema mehr, aber die Menge der Autos schränkt die Freiheit aller ein.»

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