Ein Schicksal in der Familie bewog Maria-Grazia Ciardo, dieses in ihrem Roman zu verarbeiten, mit sehr persönlichem und intensiven Ton. Sie gibt Auskunft, nicht nur über die Hintergründe, sondern auch zu den Auswirkungen.
Urs Heinz Aerni: In Ihrem Roman ist auf Seite 242 dieser Satz zu lesen: «Was war geschehen, dass er sich hinter diesen meterhohen Mauern eingeschlossen hatte?» Ohne auf die Hintergründe dieses Zitats einzugehen, stellt sich die Frage, was dazu führte, dass Sie sich genau für das Gegenteil entschieden haben, nämlich mit einem Schicksal in der Familie an die Öffentlichkeit zu gehen.
Maria-Grazia Ciardo: Die Entscheidung mit Invictus an die Öffentlichkeit zu gehen, habe ich getroffen, nach dem ich zum ersten Mal an einem Treffen der Selbsthilfegruppe für Suizidangehörige teilgenommen habe. Zu sehen, wie viele Menschen, vor allem junge Menschen, davon betroffen sind, hat mich zutiefst erschüttert. In diesem Moment habe ich erst realisiert, wie sehr um dieses Tabuthema ein Geheimnis gemacht wird. Und das obwohl genau in diesem Fall, Reden so wichtig ist.
Sie erzählen in Ihrem Roman von einer Alice und einem James, wählten dazu je eine Ich-Perspektive, also aus zwei Menschen heraus. Welche Überlegungen stehen hinter dieser Technik?
Ich möchte, dass man sich in die Geschichte hineinfühlen kann. Das man selbst zu dieser einen Person wird. Ich glaube, dass man nur so wirklich nachempfinden kann, wie es ich anfühlt, wenn man selbst in dieser Situation steckt.
Ihr Ton ist sehr intensiv und sinnlich, mit vielen Dialogen. Wann oder warum wussten Sie, dass es so für Sie stimmte?
Die erste Version von Invictus war ganz anders. Sehr trocken und manchmal auch sehr düster. Ich wusste, dass ich etwas brauchte, um das Thema zu brechen und Lichtblicke zu schaffen. Und ganz ehrlich, was gibt es schöneres als die Liebe? Sie ist das, was uns selbst an unseren dunkelsten Tagen, Hoffnung schenkt.
Der Auslöser ist ein Suizid in Ihrer Familie, den sie nun literarisch thematisieren. Was muss sich in unserer Gesellschaft diesbezüglich ändern?
Wir müssen aufhören darüber zu schweigen. Noch immer gibt man Menschen mit psychischen Erkrankungen das Gefühl, unserer Gesellschaft nicht anzugehören. Wir müssen sie integrieren und ihnen Mut machen, sich zu öffnen. Es ist an der Zeit, dass ein Umdenken stattfindet. Wir müssen Platz für diese Probleme in unserer Gesellschaft schaffen. Aufhören von Tabus zu sprechen. Aber vor allem, müssen wir tolerant sein. Nicht nur im Bezug auf den Suizid, sondern in allen Bereichen unseres Lebens. Im Jahr 2021 sollte es keine Vorurteile mehr geben. Wir Menschen sollten es doch mittlerweile besser wissen.
Viele Autorinnen und Autoren nutzen das eigene Leben als der Steinbruch für ihre Bücher. Was passierte mit Ihnen, als das Buch dann fertig war?
Tatsächlich habe ich mich noch nie in meinem Leben so frei gefühlt. Invictus war für mich ein Prozess. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich etwas allein für mich machen. So wie ich es möchte. Ich habe mir von niemandem reinreden lassen. Das fertige Ergebnis dann in den Händen zu halten, hat mich mit einer unglaublichen Zufriedenheit erfüllt.
Lassen Sie sich von Ihrer Lektüre von anderen Büchern inspirieren? Oder anders gefragt, hilft Lesen beim Schreiben?
Und wie. Während meiner Schreiphasen, verschlinge ich ein Buch nach dem anderen. Es ist fast wie Sucht.
Sie appellieren mit ihrem Roman für das bewusste Leben, das Wertschätzen für das was man hat. Warum ein Roman mit einer fiktiven Geschichte, warum nicht ein Sachbuch oder eine Autobiografie?
Ein Sachbuch wäre mir zu trocken gewesen und für eine Autobiografie bin ich noch nicht bereit.
Ihr Buch mit fast 400 dichtbedruckten Seiten vermittelt den Eindruck, dass noch viel Ungesagtes in Ihnen weiter schlummert. Bestehen Pläne für weitere Bücher?
Natürlich. Invictus ist eine Trilogie und bereits im September erscheint Teil zwei.
Beruflich sind Sie in der Gesundheitsbranche tätig, mit dem Buch sind Sie nun auch ein Teil der Welt der Bücher. Verfolgen Sie nun auch bewusster die Literaturszene?
Ich bin ein bisschen von Beidem und aktuell fällt es mir schwer, mich für eins zu entscheiden. Dafür liebe ich in beiden Fällen, dass was ich tue, viel zu sehr.
Wenn ich ein Gemälde malen würde, mit einem Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste dieses aussehen?
Der Hintergrund wäre dunkel. Viele Wolken und Schattierungen. Der Mensch würde nur aus Umrissen bestehen. Keine Details. Das Buch würde den Mittelpunkt bilden. All die Teile des Menschen, die das Buch berühren würden, wären farbig. Sie würden aus Ebenen und Details bestehen. Echt Hände würden das Buch halten, während alles was vom Buch entfernt ist, wieder in Dunkelheit gehüllt ist. Denn genau das ist Invictus. Es ist ein Lichtblick, der Menschen wieder zurück ins Leben holen soll.
Das Buch: «Invictus», Roman von Maria-Grazia Ciardo, 400 Seiten, Edition Somedia, 978-3-907095-25-6
Maria-Grazia Ciardo wurde im Jahr 1991 in Süditalien geboren und lebt heute mit ihrem Ehemann und den zwei gemeinsamen Kindern in der Schweiz. Nach einem Aufenthaltsjahr in Fribourg, wo sie als Au-Pair bei einer Gastfamilie tätig war, hat sie ihre Ausbildung zur Medizinischen Praxisassistentin absolviert. Ihren Beruf ginge sie mit großer Freude nach und liebt ihn, beinahe so sehr, wie das Schreiben. Ihre Leidenschaft für sei das Reisen, das Schreiben und das Fotografieren, kann auf ihrem Instagramprofil mariagrazia.ciardo, mitverfolgt werden. Im Dezember 2017 fasste sie dann den Entschluss, ihren Traum des eigenen Buches zu realisieren, nachdem ihr Stiefvater Suizid beging. Dieses Buch soll nicht nur der Verarbeitung dienen, sondern in erster Linie der Sensibilisierung. Denn für sie sei klar gewesen, dass in der heutigen Zeit, der Suizid kein Tabuthema mehr sein darf. www.mariagraziaciardo.com