In Brienz ist es seit einem Jahr still

Man könnte die derzeitige Lage am Brienzer Rutsch mit «Ruhe» umschreiben: Der Berg ist mehrheitlich ruhig. Im Dorf ist es seit einem Jahr still. Die zweite Evakuierung des Dorfes jährt sich in diesen Tagen zum ersten Mal. 

Wie sieht die aktuelle Lage konkret aus? Das Informations-Bulletin des Gemeindeführungsstab Albula/Alvra vom Freitag zeigt folgendes Bild: 

  • Rutschung Dorf: Abnehmende Geschwindigkeit
  • Rutschung Berg: Ebenfalls abnehmende Geschwindigkeit; trotz instabilen Felsbereichs keine grösseren Felsstürze
  • Schutthalde oben: Felsbereich zerbrochen; Geschwindigkeit nimmt leicht zu
  • Aufgrund der instabilen Lage könnten Niederschläge in den nächsten Wochen zu einer Verschärfung der Gefahrenlage führen


Ein Jahr ohne Zuversicht

Am Montag jährt sich der Tag der zweiten Evakuierung von Brienz/Brinzauls. Es war ein Jahr ohne Zuversicht und ein Jahr der Entbehrungen für die Evakuierten. Ein Ende der Evakuierung ist nicht absehbar und zahlreiche Einwohnerinnen, Einwohner und Zweitheimischen befassen sich mit Plänen, das Dorf zu verlassen, schreibt Gemeindepräsident Daniel Albertin im Info-Bulletin. 

«Ich kann es nicht mehr hören!», klagte eine Einwohnerin neulich, als wir über Brienz/Brinzauls und die Gefahr durch die Schutthalde sprachen. Die Gefahrenlage für das Dorf ist allen bekannt; in ihren Köpfen können sie nachvollziehen, warum die Gemeinde sie nicht in ihrem Dorf wohnen lassen kann. Im Innern aber wünschen sie sich, die Weisung zur Evakuierung ignorieren zu können. Ein Jahr Evakuierung bedeutet auch ein Jahr des Abwartens, dass endlich etwas geschieht.

Die «Schutthalde oben» bewegt sich schleichend langsam ins Tal. Zwar kommt mehr und mehr des Schutts aus früheren Felsstürzen unten in eine flachere Zone und bremst ab, aber von oben fallen immer wieder neue Felsblöcke darauf und halten die Bewegung auf Laufen. Sollte es zu einem grossen Felssturz kommen, könnte sich die ganze Menge lösen und als Steinlawine das Dorf treffen.

Die Ungewissheit, wie eine Zukunft in Brienz/Brinzauls aussehen mag, ist für alle zur grossen Belastung geworden. Wohl deshalb hat das Angebot zu einer präventiven Umsiedlung, das die Gemeinde, der Kanton und der Bund den Betroffenen vorbereitet, so grossen Anklang gefunden. Wie es aussieht, werden zwei Drittel der Bewohnerschaft und der Zweitheimischen Brienz/Brinzauls verlassen; ihre Häuser müssen womöglich abgerissen werden. Viele Fragen dazu stehen im Raum; für die, die im Dorf bleiben wollen und für die, die lieber wegziehen möchten.

Ein lebenswertes Dorf ist kein Zufall 

Tief unter dem Dorf wächst die Hoffnung: Tag für Tag wird der Entwässerungsstollen weiter in den Berg gesprengt, Monat für Monat sorgen mehr Bohrungen dafür, dass Wasser aus der rutschenden Masse abläuft und die Rutschung abgebremst werden kann. Für die, die in Brienz/Brinzauls bleiben wollen, ist der Entwässerungsstollen der grosse Hoffnungsträger. Die Chancen stehen gut, dass die «technische Sanierung» der Rutschung gelingt und sich die Rutschung stabilisieren wird.

Wer in Brienz/Brinzauls bleiben will, wünscht sich weiterhin ein lebenswertes Dorf –mögen noch so wenige Einheimische und Zweitheimische im Dorf sein. Ein Dorf ist mehr als nur eine Ansammlung von Häusern. Es ist Heimat, es sind die Wege, die man im Dunkeln kennt, die Nachbarn, auf die man sich verlassen kann, die Erinnerungen, die mit jedem Stein und jeder Wiese verbunden sind, ja sogar die Gerüche, die einem Verbundenheit geben.

Ein lebenswertes Dorf ist kein Zufall und wir können es nicht durch Verordnungen erhalten. Es braucht die Beteiligung aller. Wenn wir miteinander reden statt übereinander, wenn wir handeln statt nur fordern, dann können wir ein Dorf erhalten, in dem sich das Leben weiterhin lohnt. Ein lebenswertes Dorf ist das Ergebnis von Zusammenarbeit, Zusammenhalt  und gemeinsamer Vision. Gemeinsam mit den Betroffenen und den nötigen Fachleuten werden wir klären, welche Möglichkeiten es gibt, mit dem Wegzug von so vielen Menschen umzugehen und wie das «neue» Brienz/Brinzauls dereinst aussehen soll.

Zeit, danke zu sagen

Für die, die wegziehen, kommt der Stollen zu spät, die Ungewissheit ist zu gross, der Wunsch, sich an einem neuen Ort ein neues Zuhause oder Feriendomizil aufzubauen, ist viel grösser als die Zuversicht in den Entwässerungsstollen. Genauso verständlich ist aber auch das Festhalten derer, die im Dorf bleiben wollen, weil sie dort ihre Wurzeln haben. Die Gemeinde versteht beide Haltungen gleichermassen, sie respektiert die individuellen Wünsche und versucht, ihnen so weit wie möglich entgegenzukommen.

Zum Jahrestag der zweiten Evakuierung soll man auch danke sagen: Den vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der ganzen Gemeinde, dass sie Brienz/Brinzauls und seinen Menschen Jahr für Jahr den Rücken stärken und Verständnis zeigen für den grossen Aufwand, den wir seit Jahren für die eine von sieben Gemeindefraktionen betreiben. Den Mitarbeitenden der Gemeindeverwaltung und der Gemeindebetreibe, die sich – wenn nötig Tag und Nacht – für Brienz/Brinzauls einsetzen und daneben nie vergessen, dass Albula/Alvra nicht nur aus Brienz/Brinzauls besteht. 

Ich danke auch den Mitgliedern des Gemeindeführungsstabs und den Mitarbeitenden der beauftragten Unternehmen, die parallel zu ihrem Berufs- und Privatleben jederzeit einsatzbereit sind, um mit uns die vielen Aufgaben zu lösen, die die Grossrutschung von uns abverlangt. Und nicht zuletzt danke ich dem Kanton Graubünden und dem Bund, die uns finanziell – aber auch personell und mit ihrem grossen
Erfahrungsschatz helfen.

Wie lange die Evakuierung noch weitergehen muss, kann derzeit niemand genau sagen. Noch einmal werden es aber mehrere Monate sein, die die Betroffenen darauf warten müssen, wieder in ihrem Dorf wohnen zu können. 

Mit «Ein spezieller Jahrestag, an dem trotz allem das Gute nicht von den Herausforderungen übersteuert werden darf!», schliesst der Gemeindepräsident seine persönlichen Worte. 

Zugangsmöglichkeiten zum Dorf ab Mitte November

Ab dem kommenden Montag, 17. November, gelten neue Regelungen für den tageweisen Zutritt nach Brienz/Brinzauls. Neu ist der Zugang zum Dorf nur noch am Mittwoch, Samstag und Sonntag, jeweils zwischen 9 und 17 Uhr möglich. Zugang erhalten evakuierte Bewohnerinnen und Bewohner sowie Besitzerinnen und Besitzer von Ferienwohnungen und -Häusern von Brienz/Brinzauls. 

Dritte können auf Antrag an den Gemeindeführungsstab Zutritt zum Gebiet erhalten, wenn sie für die Evakuierten, für die Gemeinde oder die Vorsorge- und Ereignisorganisation dringende Arbeiten erledigen, die nur innerhalb des Betretungsverbotes erledigt werden können. Auch für sie gilt die Einschränkung, dass der Zutritt nur am Mittwoch, Samstag und Sonntag erlaubt werde kann.

Aufhebung des Kontrollpunktes Vazerol 

Der Kontrollpunkt Vazerol wird aufgehoben. Der Zutritt zum Dorf ist ab kommender Woche nur noch über den Kontrollpunkt Belfort möglich.

Der Gemeindeführungsstab und der Gemeindevorstand mussten die Einschränkungen der Betretungsmöglichkeiten beschliessen, um die hohen Sicherheitskosten für den Zugang zum Dorf zu reduzieren. An Tagen mit Zugang zum Dorf für die Evakuierten muss die Entwicklung der Gefährdungslage durch die Geologen des Frühwarndienstes engmaschiger begleitet werden als sonst. Zudem müssen die beiden Kontrollpunkte durchgehend mit zivilem Sicherheitspersonal besetzt sein. Dieses muss sicherstellen, dass ihm jederzeit bekannt ist, wer sich im Dorf befindet und dass die betreffenden Personen telefonisch erreichbar sind. Allein in den Monaten September und Oktober sind dafür Aufwände von rund 80’000 Franken entstanden. Die Fortführung der bisherigen Möglichkeiten, das Dorf an allen Tagen der Woche und über zwei Kontrollpunkte zu betreten, konnten deshalb nicht fortgeführt werden.

Nach wie vor gilt, dass der Zugang zum Dorf nur an Tagen erlaubt werden kann, wo die Gefährdungslage durch die «Schutthalde oben» dies zulässt. Falls sich die Gefährdungslage während eines Zutritts zuspitzt, muss er innerhalb von kürzester Zeit abgebrochen werden können.

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