Die Aufnahme an die Mittelschulen des Kantons Graubünden erfolgt gegenwärtig mittels einheitlicher kantonaler Aufnahmeprüfungen. Für den Regelzutritt (6. Primarschulklasse bzw. 2. Sekundarschulklasse) werden neben dem Prüfungsresultat auch die auf der abgebenden Schulstufe im letzten Semester vor der Prüfung erzielten Zeugnisnoten in ausgewählten Fächern für den Prüfungsentscheid mitberücksichtigt. Gemeinsam mit 44 Mitunterzeichnenden forderte der damalige Grossrat Remo Cavegn im Februar 2020 die Regierung mittels eines parlamentarischen Auftrags dazu auf, die Grundlagen für eine prüfungsfreie Aufnahme in die Bündner Mittelschulen zu schaffen. Bemängelt wurde am gegenwärtigen Verfahren insbesondere, dass der Prüfungserfolg stark von der unterstützenden Vorbereitung mittels teilweise kostenpflichtiger Kurse abhänge, die nicht allen zur Verfügung stehen und zu sozial wie regional ungleich verteilten Aufnahmechancen führen würden.
Vor- und Nachteile von Aufnahmeprüfungen und anderen Aufnahmeverfahren untersucht
Auf Antrag der Regierung sprach sich der Grosse Rat für eine Abänderung des Auftrags aus. Vor einer allfälligen Anpassung des Aufnahmeverfahrens an die Mittelschulen sollte ein wissenschaftliches Gutachten differenziertere Entscheidungsgrundlagen liefern. Mit der nun vorliegenden Expertise wurde der emeritierte Professor für Gymnasialpädagogik Dr. Franz Eberle von der Universität Zürich beauftragt. Er verfügt aufgrund seiner langjährigen Arbeiten zur Sekundarstufe II über ausgezeichnete Kenntnisse der Übertrittsproblematik.
Im Gutachten wurden bisherige Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Prognosegüte und zur sozialen Selektivität verschiedener Aufnahmeverfahren an Mittelschulen, insbesondere an Gymnasien, aufbereitet. Sodann wurden die Prognosegüte und die Chancengerechtigkeit speziell des Bündner Verfahrens auf der Grundlage von Daten der Aufnahmeprüfungen 2014–2018 und den späteren Leistungsergebnissen der damaligen Schülerinnen und Schüler sowie den Daten der Aufnahmeprüfungen 2021 untersucht. Zusätzlich wurden die Kandidatinnen und Kandidaten des Jahres 2021 zur Art ihrer Vorbereitung sowie ihren Herkunftsmerkmalen befragt. Unter Einbezug der so gewonnenen Erkenntnisse für das Bündner Verfahren wurde dieses mit insgesamt 11 anderen möglichen Aufnahmeverfahren verglichen und die jeweiligen Vor- und Nachteile herausgearbeitet.
Kombinationsnote von Aufnahmeprüfung und Übertrittsnote bewährt sich
Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die Annahme, der Aufnahmeerfolg sei von den kostenpflichtigen Vorbereitungskursen abhängig, kaum haltbar ist. Die Bestehensquote lag einzig bei jenen wenigen Kandidatinnen und Kandidaten etwas tiefer, die sich gar keine Unterstützung zur Vorbereitung geholt hatten, also auch nicht in der Schule und/oder bei den Eltern, Geschwistern, Verwandten, Bekannten. Dass man sich aber auf grössere Prüfungen vorbereitet und sich dabei um eine zumindest kostenlose und minimale Unterstützung und Beratung bemüht, gehört auf allen Bildungsstufen dazu und ist nichts Aussergewöhnliches.
Im Weiteren sagt die Kombinationsnote von Aufnahmeprüfung und Übertrittsnote die späteren Promotions- und Abschlussnoten besser voraus als die beiden einzelnen Werte. Die Bündner Kombination von schwergewichtiger Aufnahmeprüfung und ergänzender Berücksichtigung der bisherigen Vornoten schneidet auch im Vergleich zu anderen Verfahren insgesamt am besten ab. Eine Zuweisung nur aufgrund bisheriger Noten beispielsweise wäre weniger chancengerecht. Zu diesem Schluss sind grundsätzlich auch die Diskussionen gelangt, die der Gutachter in drei Workshops mit den am Bündner Aufnahmeverfahren beteiligten und davon betroffenen Anspruchsgruppen geführt hat. Einbezogen wurden die abgebenden Schulen, vertreten durch den Verband Lehrpersonen Graubünden (LEGR, Fraktionen Primar und Sek I) sowie das Amt für Volksschule und Sport (AVS), das Amt für Berufsbildung (AFB), die Leitenden der Bündner Mittelschulen, die kantonale Aufsichtskommission im Mittelschulwesen, die Mitglieder der Steuerungs- und Prüfungsgruppen Aufnahmeprüfungen sowie Vertreterinnen und Vertreter der Handelskammer und des Arbeitgeberverbandes Graubünden und des Bündner Gewerbeverbandes. Dennoch werden einige kleinere Anpassungen vorgeschlagen, um die Voraussagekraft des Bündner Verfahrens zu optimieren, den Nachteil der Momentaufnahme am Prüfungstag zu mildern und den Zugang zu einem grundsätzlich ausreichenden Minimum an Unterstützung bei der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfungen flächendeckend sicherzustellen.
Mehr Chancengleichheit bei der Prüfungsvorbereitung
Gestützt auf die Schlussfolgerungen aus dem wissenschaftlichen Gutachten hat die Regierung entschieden, das bisherige Aufnahmeverfahren mit kantonaler Aufnahmeprüfung und Berücksichtigung der Übertrittsnoten beizubehalten.
Um jedoch eine einheitliche und chancengerechte Prüfungsvorbereitung sicherzustellen, werden die Schulträgerschaften der Volksschule neu dazu verpflichtet, ab Schuljahr 2023/24 an sämtlichen Schulstandorten für alle interessierten Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse der Primarschule und der zweiten und dritten Klasse der Sekundarschule unentgeltliche Möglichkeiten zur Prüfungsvorbereitung anzubieten. Zudem soll bei der Aufnahmeprüfung in die dritte Gymnasialklasse und die erste Klasse der Handels- und Fachmittelschule die Übertrittsnote künftig ein mit der Aufnahmeprüfung in die erste Gymnasialklasse vergleichbares Gewicht erhalten. Dadurch kann ein potenziell negativer Einfluss der Tagesform am Prüfungstag verringert werden.
(Bild: zVg.)