Im Zuge des Neubaus der Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez musste der Archäologische Dienst Graubünden im Jahr 2016 den ehemaligen Anstaltsfriedhof ausgraben. Die 2019 veröffentlichten Untersuchungen ermöglichen einen differenzierten Einblick in die damaligen Lebensbedingungen und den gesundheitlichen Zustand von zwangsweise verwahrten Menschen. Nun erinnert eine Bronzetafel an die Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und administrativer Versorgung in der Anstalt Realta.
Als Reaktion auf die weit verbreitete Armut entwickelte sich in der Schweiz im 19. Jahrhundert ein System der Zwangshilfe. Damals wurde Armut stärker als heute als Folge von individuellem Fehlverhalten gesehen und weniger auf strukturelle, wirtschaftliche oder politische Umstände zurückgeführt. Menschen, deren Lebensstil von der gewünschten Norm abwich oder die nicht in der Lage waren, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten und deshalb der Familie oder der Gemeinde zur Last fielen, liefen Gefahr, unter Zwang in Institutionen wie Arbeits- und Armenhäuser eingewiesen zu werden (administrative Versorgung).
Die Korrektionsanstalt Realta
Vor diesem Hintergrund wurde in Cazis ab 1854 die «Kantonale Korrektionsanstalt Realta» errichtet und für verstorbene Insassinnen und Insassen dieses Neubaus ein eigener Friedhof angelegt. Anhand der überlieferten Anstaltsregister sind die Namen und weitere Daten vieler Personen bekannt, die während ihrer Zeit in der Anstalt verstarben und dort beerdigt wurden. Die Quellen bezeugen ein breites Spektrum an Zwangsversorgten mit Frauen und Männern beider Konfessionen, unterschiedlichen Alters und auch ausserkantonaler Herkunft. Sie wurden als «liederlich», «herumziehend» oder «arbeitsscheu» charakterisiert. Von Beginn an verfügte die Korrektionsanstalt zudem über eine «Irrenabteilung» für psychisch kranke Menschen. Der Friedhof wurde bis kurz nach 1910 benutzt und spätestens in den 1930er Jahren aufgegeben.
Archäologische Untersuchung des Anstaltsfriedhofs
Im Zuge des Neubaus der Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez musste der Archäologische Dienst Graubünden im Jahr 2016 den historischen Anstaltsfriedhof archäologisch untersuchen. Bei dieser Rettungsgrabung wurden 103 Körperbestattungen geborgen. Die nachfolgenden und 2019 in einer wissenschaftlichen Studie veröffentlichen Untersuchungen erlaubten es erstmals, mögliche körperliche Ursachen und Auswirkungen der administrativen Versorgung beziehungsweise Einweisung in die «Irrenanstalt» differenzierter zu bewerten. Damit wurden durch die Archäologie neue Aspekte der Zwangsfürsorge beleuchtet, die aufgrund der historischen Überlieferung bisher kaum berücksichtigt wurden.
Erinnerungsort für Betroffene
Nach Abschluss der Untersuchungen erinnert nun eine schlichte Gedenkstätte in der Nähe des ehemaligen Anstaltsfriedhofs an die Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und administrativer Versorgung in der Korrektionsanstalt Realta. Der Kanton Graubünden leistet damit einen weiteren wichtigen Beitrag zur umfassenden Aufarbeitung dieser bis heute nachwirkenden Praktiken. «Das Unrecht, das Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erfahren haben, ist damit natürlich nicht wiedergutzumachen, aber die Gedenkstätte gibt der Erinnerung Raum und verankert sie am Ort des Geschehens.» sagt Jon Domenic Parolini, Vorsteher des mit der Untersuchung betrauten Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements. Es ist davon auszugehen, dass in der langen Zeit von 1855 und 1981, in der «administrative Versorgungen» in Realta möglich waren, allein in dieser Anstalt insgesamt bis zu 1500 Menschen betroffen waren. Die durch den Kanton Graubünden geförderte kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema während der letzten Jahre sowie mehrere wissenschaftliche Studien, Sonderausstellungen und Erinnerungsorte sollen helfen, dass diese Menschen und ihr Unglück und Leiden nicht in Vergessenheit geraten.
(Bild: zVg.)