Die Attraktivität von Graubünden steigt

In der Corona-Pandemie haben Schweizerinnen und Schweizer die Berge entdeckt – dank Home-Office-Pflicht nicht nur für Freizeit, sondern zunehmend auch in Kombination mit „remote work“. Dieser Trend könnte seit langem eine der grössten Chancen fürs Berggebiet als Wohnort darstellen und der Abwanderungs- und Überalterungstendenz etwas entgegensetzen.

Das Wirtschaftsforum Graubünden hat die heutige Wohnattraktivität der Bündner Gemeinden analysiert und zeigt Stossrichtungen auf, wie die Gemeinden das Potenzial nutzen können.

Ein beachtlicher Teil der Arbeitnehmenden ist in den letzten zwei Pandemiejahren auf den Geschmack gekommen: Flexiblere Arbeitsmodelle in Bezug auf Zeit und Ort werden gemäss verschiedener Studien zunehmend geschätzt. Die Arbeitgeber ziehen nach: Hybride Arbeitsmodelle werden zur neuen Realität auf dem Arbeitsmarkt – zumindest in den Teilen des Dienstleistungsbereichs, in denen solche Modelle überhaupt möglich sind.

Grosse Chance für Graubünden als Wohnstandort

Für Graubünden – und insbesondere fürs Bündner Berggebiet – bedeutet dieser beschleunigte Trend eine grosse Chance, um aus dem Teufelskreis von Abwanderung und Überalterung auszubrechen. Arbeits- und Wohnort müssen künftig nicht mehr zwingend nahe beieinanderliegen, da der Arbeitsplatz im Betrieb nicht mehr jeden Tag aufgesucht werden muss. Vor diesem Hintergrund ist der grosse Anteil von 47% Zweitwohnungen eine Chance. Das Segment der Zweitheimischen könnte künftig vermehrt für „Workation“ oder sogar zum Verlegen des Erstwohnsitzesgewonnen werden. Vom Digitalisierungstrend angetrieben, könnten auch andere Neuzuzüger Graubünden vermehrt als Wohnort in Betracht ziehen. Und Einheimische müssen für Ausbildung und Karriere nicht mehr in jedem Fall ihre Heimat verlassen.

Heutige Wohnattraktivität der Bündner Gemeinden

Vor diesem Hintergrund stellen sich Gemeinden die Frage, mit welchen Massnahmen sie ihre Wohnattraktivität am wirkungsvollsten steigern können. Darum hat das Wirtschaftsforum Graubünden die Stärken und Schwächen aller Bündner Gemeinden mehrdimensional analysiert. Faktoren wie Freizeitangebote und Verkehrserschliessung, Kinderbetreuungs- und Schulangebote, Steuern, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Internetabdeckung wurden dabei systematisch ausgewertet. Gemeinden erhalten damit ein Abbild der aktuellen Situation, das ihnen bei der gezielten Verbesserung ihrer Wohnattraktivität hilft.

Zentrale Themen im ganzen Kanton

Der Handlungsbedarf ist in jeder Gemeinde unterschiedlich. Über den ganzen Kanton kristallisieren sich aber einige zentrale Themen heraus, welche für die Steigerung der Wohnattraktivität massgeblich sind:

  • Vielfältige Freizeit- und Sportmöglichkeiten sind wichtige Gründe, wieso Gäste und Einwohner gerne Zeit in Graubünden verbringen. Die Angebote müssen gepflegt und bedürfnisgerecht weiterentwickelt werden.
  • Durchgängige Tagesstrukturen, Kinderbetreuungsangebote und die Reduktion von sprachlichen Hindernissen in der Primarschule stellen ein Bedürfnis von potenziellen Neuzuzügern dar.
  • Eine auf die zukünftige Datenmenge zugeschnittene Internetabdeckung, sei dies mit 5G oder Glasfaser, ist zwingend erforderlich. Diese sollte auf mindestens 1GB/Sekunde bei Down- und Upload ausgerichtet sein, was heute vielerorts noch nicht gegeben ist.
  • Die Umschichtung der Steuern, z.B. eine stärkere Belastung der Liegenschaften zugunsten einer tieferen Einkommenssteuer, kann wichtige Anreize für Steuerzahler im Erwerbsalter setzen und den finanziellen Handlungsspielraum der Gemeinden erhöhen.
  • Das Problem des knappen Wohnraums für Einheimische gilt es anzupacken. Gemeinden müssen sich bei diesem Thema darüber klar werden, ob sie eine aktive Rolle im Bereich der Bodenpolitik und bei konkreten Investitionen einnehmen wollen.

Strategien für ein Revival als Wohnstandort

Um vom Trend der flexibleren Arbeits- und Wohnmodellen zu profitieren, können Gemeinden verschiedene Strategien wählen:

Für Tourismusgemeinden ist es zumeist am einfachsten, auf Zweitheimische zu setzen. Sie verfügen bereits über eine Liegenschaft, so dass die Wohnraumknappheit bei ihnen kein Hindernis darstellt. Zudem sind sie dem Ort verbunden und stellen eine quantitativ bedeutsame Zielgruppe dar. Gelingt es, Zweitheimische zu vermehrten bzw. längeren Aufenthalten oder gar zur Verlegung des Erstwohnsitzes nach Graubünden zu bewegen, so resultieren bedeutende positive Wertschöpfungseffekte, welche die Ganzjahresattraktivität der Gemeinde stärken und damit die Wohnattraktivität auch für die Einheimischen erhöhen.

Regionale Zentren wie Ilanz oder Thusis schneiden punkto Wohnattraktivität im Bündner Vergleich überdurchschnittlich ab. Obschon sie in der öffentlichen Wahrnehmung etwas unscheinbarer sind als die Tourismusdestinationen, verfügen sie aber über eine Vielzahl von Angeboten bei Bildung, Freizeit, Arbeitsmarkt und Grundversorgung. Mit diesem breiten Portfolio können sie vielfältige Bedürfnisse erfüllen. Regionale Zentren richten ihre Wohnstandortstrategie mit Vorteil auf Neuzuzüger und Einheimische aus und stärken Standortfaktoren, die der ständigen Wohnbevölkerung wichtig sind – von Läden über die Gesundheitsversorgung bis zu Schulen, Kinderbetreuung und Freizeitangeboten. Das moderatere Preisniveau für Wohnimmobilien als in den grossen Tourismusgemeinden stellt einen Vorteil dar, der künftig noch an Bedeutung gewinnen könnte.

Periphere Gemeinden schneiden heute bei fast allen Wohnstandortfaktoren unterdurchschnittlich ab. Diese Schwächen führen unter anderem zu einem tieferen Immobilienpreisniveau. Die peripheren Gemeinden könnten daher zu den Gewinnern der Arbeitswelt 3.0 gehören und neue Einwohner anziehen, wenn sie entsprechenden Wohnraum künftig auch tatsächlich bereitstellen können. Allerdings sehen sich die peripheren Gemeinden häufig damit konfrontiert, ihre Baulandreserven in den kommenden Jahren als Folge des revidierten Raumplanungsgesetzes (RPG 1) besonders stark reduzieren zu müssen und damit ihren wichtigsten (und oftmals fast einzigen) Trumpf aus der Hand zu geben.

Um vom Trend der flexibleren Arbeits- und Wohnmodelle zu profitieren, ist es für alle Bündner Gemeinden entscheidend – besonders abseits des Bündner Rheintals – sich mit ihrer Wohnattraktivität auseinanderzusetzen.

 

(Quelle: Wirtschaftsforum Graubünden)