Am 14. Juni 2019 an der Landsession in Pontresina waren wir Frauen, wen überrascht es, in der Minderheit: überall! Vorne im Saal sassen neben den fünf Regierungsräten noch der Kanzleidirektor, der Ratssekretär, der Vizestandespräsident und als einzige Frau die Standespräsidentin.
Ein Jahr später tagt der Grosse Rat in Chur. Vorne sitzen wiederum die fünf Regierungsräte, der Kanzleidirektor, der Ratssekretär, der Vizestandespräsident und der Standespräsident. Frauen? – Keine! Was für eine Entwicklung!
Vor einem Jahr war die Woche um den 14. Juni geprägt vom nationalen Frauenstreik. Aber was macht eine Frau wie ich, die das Demo-Gen nicht hat? Sie versucht, sich selbst zu sein und schwimmt ab und an gegen den Strom.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich habe grosse Achtung und Bewunderung für diejenigen Frauen, die sich an den Veranstaltungen rund um den 14. Juni beteiligten oder diese gar organisiert haben. Der laute Protest war notwendig und mehr als gerechtfertigt! Am 14. Juni letzten Jahres habe ich nicht am Streik teilgenommen. Ich habe eine violette Bluse angezogen – nur eine meiner Grossratskolleginnen hat dies bemerkt – und bin auf meine Weise meinen Weg gegangen.
Nebst meiner Aufgabe als Grossrätin bin ich Gemeindevizepräsidentin und Mitglied in verschiedenen Kommissionen und Gremien und dabei in der Regel die einzige Frau. Regelmässig werde ich gefragt, wie ich alles unter einen Hut bringe. Eine Frage, die nur einer Frau, nicht aber einem Mann gestellt wird.
Männer haben Familie, wir Kinder. Männer arbeiten genau, wir pedantisch. Männer sind ehrgeizig, wir egoistisch.
Dies ist Teil meiner Realität. Meinen Weg zu gehen umfasst auch diesen dauernden Kampf – vor und nach dem 14. Juni. Diese Herausforderung braucht Energie und ja, ich habe zu beissen. Daran, mich gegenüber Männern und Frauen rechtfertigen zu müssen, mit Vorurteilen konfrontiert zu werden. Mit Shirt oder Bluse, leise oder mit lauter Stimme. Wir Frauen werden auch deshalb noch lange in der Minderheit bleiben, weil wir Bedenken haben, uns Gehör zu verschaffen, uns zu exponieren; Frau sein wollen.
Ich habe diese Gedanken für meine erste Kolumne in romanischer Sprache aufgeschrieben. Für diese wurde mir sogar ein Honorar angeboten. Ich habe nicht darauf verzichtet aber darum gebeten, dieses dem Frauenhaus Graubünden zukommen zu lassen. Ich gehe meinen Weg auf meine Weise.
(Bild: frauen-streiken.ch/ Paola Ferro Mäder)