Ich und die Fremden

Wir reisen oder werden bereist. Wir migrieren oder Migration kommt zu uns. Wir begegnen am neuen Arbeitsplatz Menschen, die wir nicht kennen. Wie sollen wir mit dem uns Fremden umgehen?

 

Im 18. Jahrhundert wird der Nationalstaat als eine politische Zusammenfügung von Menschen auf einem bestimmten geographischen Gebiet unter staatlicher Führung erfunden. Jede Person gehört einer Nation an und wird durch diese Zugehörigkeit definiert. Staatenlose waren auf sich selbst gestellt. Im Namen der Nation, welche Heimat und Zwangsgemeinschaft gleichzeitig ist, werden Kriege geführt, aber auch Sozialleistungen erbracht. Ab dem 19. Jahrhundert wird in Europa und damit weltweit die Idee der Rasse zu einem zentralen Element der Beschreibung von Menschen. Zum politischen Kriterium der Zugehörigkeit gesellt sich ein biologisches. Mit der Zeit werden beide «essentialistisch» verwendet, d.h. dass sie das Wesen einer Person unveränderlich beschreiben: Du bist (und bleibst), woher Du kommst und vom wem Du abstammst. Aufgrund der nationalistischen und rassistischen Erfahrungen des 1. und des 2. Weltkriegs werden Nation wie Rasse als Beschreibungen relativiert bis verpönt. An ihre Stelle tritt der Begriff der «Kultur», der zunächst als die für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft typischen Handlungen verstanden wird, in Praxis aber häufig essentialistische Züge annimmt.

Von der Partneruniversität SUES in Shanghai sind zurzeit sechs Studierende an der FH Graubünden, um ihren Bachelorabschluss zu erlangen. Sie sind Chinesinnen (Nation), Han-Chinesen (Ethnie, eine Kategorie zwischen Rasse und Kultur) und sind in der «chinesischen Kultur» aufgewachsen. Auffällig ist, jede und jeder von ihnen verfolgt einzigartige eigene Ziele, hat individuelle Hoffnungen und Ängste, die sie oder ihn auszeichnen. Die eine ist abenteuerlustig, will so viel wie möglich entdecken und erleben. Der Andere ist stark karriereorientiert: Lernen allein ist von Interesse. Für einige ist der Konsum von europäischen Produkten ein grosses Anliegen. Einer vermisst sein chinesisches Essen, den Geruch von zu Hause. Von der FH Graubünden gehen jedes Jahr mehrere Dozierende nach Shanghai für eine bis vier Wochen unterrichten. Deren Rückmeldungen sind höchst unterschiedlich. Ihre Zugehörigkeit zur weissen Rasse (falls wir diesen Begriff verwenden wollen) oder ihre schweizerische oder deutsche Herkunft zeitigte keinen vereinheitlichenden Einfluss.

Aus dieser enormen Vielfalt schliesse ich, dass mit nationalen oder kulturellen Generalisierungen nichts gewonnen wird, aber viel an individueller Kreativität verloren geht. Jede und jeder Einzelne von uns erarbeitet sich mit den Menschen, denen wir begegnen und die uns prägen oder von uns geprägt werden, eine für uns sinnvolle Wirklichkeit. Wir verstehen die Anderen, wenn wir sie nicht als Vertreterinnen oder Vertreter einer Nation, einer Kultur, einer Religion oder einer Rasse behandeln, sondern als Individuen mit ihrer ganz eigenen Geschichte. So bietet sich uns auch die Möglichkeit, ganz unerwartete Erfahrungen zu machen, die Anregung und Quelle für Neues sein können, wenn wir denn wollen. Ob Nation, Rasse oder Kultur – in allen Fällen geht das Individuum verloren und wir beschränken unsere Möglichkeiten, die Zukunft frei zu gestalten.

 

Dr. Eric Dieth ist Dozent für Soziologie, Recht und Ethik am Zentrum für Betriebswirtschaftslehre.