Staldereien: Lieber Anstand

Wenn heute Abend so ein Typ im knalligen Design aus dem Wäldli ins Halbdunkel des Dorfes wankt, wenn der Vierbeiner unter dem Gewicht des monströsen Sacks sein Geschäft verrichtend beinahe zusammenbricht, wenn das stark pigmentierte Anhängsel mal wieder nicht weiss, was es sagen soll, weil es nix zu sagen hat, wenn die lieben Kinderlein aufgeregt in der Stube schier in die Hose seichen und die alten, teegetränkten Tanten auch – ja dann, dann kommt der Samiklaus. Einer der wissen muss, wie der Hase läuft. Die ritualisiert analoge Feedbackschlaufe, welche die Kinder mit guten und schlechten Taten konfrontiert. Ein Typ zum Anfassen. Oder besser doch nicht. Netter Onkel, schlechtes Gewissen und Freak in Personalunion.

Es wirkt nahezu anachronistisch: Der alte, weisse Mann im gewöhnungsbedürftigen Layout beruft sich auf dich, lieber Anstand, und bringt dich fürsprecherisch in die guten Stuben des Landes. Mollmoll, das ist einfach schön, heimelet und entschleunigt den Dezemberalltag spürbar. Wenn dann aber die lieben Kinderlein vorbei am brennenden Kerzlein durch die halbzugefrorenen Fensterchen in die Welt hinausgucken, werden sie feststellen, dass andere ältere, weisse Männer – meist glattrasiert – dich nicht mehr kennen. Zumindest bist du ihnen ziemlich egal. Oder sie treten dich mit Füssen. Möglicherweise wissen sie nicht mal mehr, wie man dich schreibt. Weshalb also sollten besagte Winzlinge diesem altmodischen Ding folgen wollen?

Den anzüglichen Mannen auf der politischen Weltbühne oder dem Podest im eigenen Tal, seien die Bretter unter den Füssen für einen Moment mal entzogen. Wäre ja eh nicht die blödeste aller Ideen. Item. Du, mein lieber Anstand, versteckst dich eben auch in den Niederungen des Alltages geradezu meisterhaft! Wie machst du das nur? Ich meine im Zug, vor dem Brokkoligestell, im Hörsaal, in der Toi-Toi-Warteschlange. In Mails, Sprachnachrichten und Kommentarzeilen. Ja, vor allem in den Kommentarzeilen! Als würde es dich nicht geben. Als wären Jahrtausende von tradiertem, erwartbarem Umgang miteinander in der aufgeheizten Atmosphäre wegsublimiert worden. Universelles Wissen zu einfachsten Regeln des Zusammenlebens verdunstet wie Methanoltropfen auf meiner Kühlerhaube. Dabei brauchtest du dich gar nicht zu verstecken, wärest du geselliger und gern gesehener Gast. Öfter erwünscht als nicht. Wichtiger denn je. Wer kann das schon von sich behaupten?

Weisst du noch? Im Atlasgebirge, Sommer 1907? Es diskutiert ein einfacher Feldarbeiter mit einem gebildeten Lehrer über Moral und Ethik und entwickelt daraus – nicht den weisen Schriften folgend, sondern seinem Gerechtigkeitssinn trauend – eine Leitidee. Lucien Camus, Vater von Albert, entgegnet im Gespräch mitten im Algerienkrieg dem gebildeten Freund, welcher die Taten beider Seiten erklärend billigt: «Nein, ein Mensch, der hält sich im Zaum. Genau das ist ein Mensch, sonst…». In «Die Pest» wird Albert Camus vierzig Jahre später des Vaters Wert noch deutlicher fassen, den Anstand in eine ganz grosse Geschichte weben.

Lieber Anstand: Ein Mensch hält sich im Zaum – welch einfaches Fundament in einer ach so komplex anmutenden Welt. Einladung zum Weiterdenken. Und du, trau dich ruhig mal etwas lauter zu werden, ja, aufzufallen. Es stünde dir gut an!

Dein dich vermissender

Christian Bimmelbimm Stalder

PS:  Der Sound zum Fest, am besten in Endlosschlaufe geniessbar: «Samichlaus» (Track 11), Pfannenstil Chammer Sexdeet auf deren bester Platte «Schotter» (1999).

(Bild: GRHeute)