Spätsommernachmittag. Im Dorf ist es ruhig: In der Schule sitzen artig im Kreis die Jungen. Im Kirchgemeindehaus die Alten. «82, die Nummer 82?», schreit die eine. – «Ich!», eine andere. Wie wenig infantile Lebenszeit uns zwischen Wiege und Bahre doch bleibt. Denke es mir in der süsslich riechenden Duftwolke stehend und gehe weiter. Es ist ruhig. Der Rest des Dorfvolkes drückt sich auswärts vor dem Dorfleben. Ich gehe weiter durch bekannte Strassen, die sich für immer zu bewahren anschicken. Die Revolution des Wandels versteckt sich hier hinter mächtigen Bergen von Althergebrachtem. Müde treffe ich auf diesen Buben, der, zwanzig Meter neben dem Hof des obersten Bauern im Dorfsaustall, auf einen Baum zeigt. Und sich krumm lacht. Die Szenerie wirkt ulkig und unwirklich zugleich. Auf meine Nachfrage, was er denn da tue, meint der Knirps: «Der Baum ist so blöd, völlig bala-bala!». – «Weshalb?», frage ich erstaunt nach. – «Er hat seine Blätter schon fallen gelassen, dabei ist der Sommer ja noch nicht vorbei!» Gestik, Mimik und eine sichtbare Überzogenheit – dieses Besserwisserische, das man an Kindern manchmal, an Erwachsenen kaum je mag –bestärken das, was der Junge da tut. Es zieht mich irgendwie mit.
Weniger hinreissen lasse ich mich bei der Lektüre einer Einladung, welche mich diese Woche erreicht hat: Am 22. September 2019 findet die Gedenkfeier zum Tode des Pizolgletschers statt. Hoch oben legt der schon immer schmächtig Wirkende nicht mehr an Masse zu und wurde deshalb zum Tode erklärt. Der Gletscher ist keiner mehr; fauler Schnee, altes Eis.
Das mag traurig stimmen, zum Nachdenken anregen, Wut entfachen. Aber eine Gedenkfeier dafür abhalten? Ich kriege das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Man muss das mal zu Ende denken. Wer hält die Zeremonie eigentlich ab? Die Katholiken mit grossem bischöflichem Brimborium, aber frei von glazialer Sünde? Die Reformierten, schuldbeladen passende Bibelstellen hauchend? Oder die neuen geistlichen Helden von ICF mit peppigen Reden (eher Phrasen), einer Liveband (gescheiterte Rockmusiker beim Stelldichein) und viel «yeah!» (u.a. vom hauseigenen Jugendtanzchor)?
Er, der alte Gletscher, liegt abgeserbelt da, mit dem Rücken zur Steilwand des Pizol auf 2840 Metern über Meer und unter ihm, in seinem ehemaligen Schuttbett, trauern festlich gekleidet in Wanderschuhen die Massen. Der wird sich seinen Teil sicher denken, mein Freund, der Gletscher. Da könnt’ er in Ruhe noch ein paar Herbsttage geniessen. Aber nein, stattdessen das alberne Theater.
Vielleicht spricht jemand zum Gletscher, das Fastenopferteam, eine Brot-für-alle-Stiftungsrätin oder irgendjemand aus der LGBT+-Gruppierung mit grüner Anhauchung, die dem ihm zum Finale ein neues Ich verpasst. Geschichten, Andacht, gute Wünsche. Zitternde Stimmen, greller Aufschrei. Der Wind pfeift. Ein Kranz wird ihm an die Füsse gelegt. Andächtig, still und leise. Dahinter, merkantil, klicken leise die Kameras der Boulvardpresse. Jetzt hat also auch die Schweiz ihren ersten toten Gletscher. Fette Schlagzeile. Scheiss Klimawandel.
Der kleine Junge und ich sprechen über den Baum. Wahrscheinlich ist ihm nicht wohl. Da darf man schon mal die Blätter fallen lassen. August hin oder her. Wir verpassen ihm dennoch eine Diagnose nach ICD-10: F32.1, mittelgradige Depression. Vielleicht, weil er vom toten Gletscher gehört hat. Oder sich des Bauern Kühe just an ihm reiben. Oder aufgrund der Aussicht auf sage und schreibe vier langweilige Wahlplakate. Mit mindestens so vielen, wenig aufregenden Menschen, die ihn anlachen. Fast schon grinsen. Unentwegt anlachen und grinsen. – Bäume im Dorf habens auch nicht leicht!
PS: Als temporärer Barträger mit erstmals acht Millimeter Haaren im Gesicht stelle ich fest, dass neben dem optischen Plus auch negative Seiten zu Buche schlagen. Insbesondere bei der Nahrungsaufnahme. Rahmsaucen beispielsweise bleiben speziell gerne am Oberlippenbart hängen, was zu seltsamen Gefühlen führt. Sind Sie Bartträger? Kennen Sie solche Probleme? Fühlen Sie gleich? Dann schreiben Sie mir!