Ich erinnere mich an den 7. Februar 1971: nach unermüdlichem und langem Wahlkampf wurde in der Schweiz in einer eidgenössischen Abstimmung das Frauenstimm- und Wahlrecht auf Bundesebene angenommen. Abstimmen durften nur die Schweizer Männer. Ich sehe noch die glücklichen Gesichter meiner Eltern. Meine Mutter ging mit Stolz an die Urne. Das war damals auch bei uns nicht selbstverständlich, verzichteten doch etliche Frauen mehr oder weniger freiwillig zugunsten ihrer Männer auf ihr neues Recht.
In Oslo, vor dem Parlamentsgebäude, las ich neulich eine Informationstafel über das Stimmrecht in Norwegen. Das Frauenstimmrecht wurde dort bereits im Jahr 1913 eingeführt. Allerdings durften Männer und Frauen mit Armenunterstützung bis 1919 nicht am demokratischen Prozess teilnehmen. Dieses Jahr feiert Norwegen bereits 100 Jahre Stimmrecht für alle Bürgerinnen und Bürger.
Rechtlich sind heute die Grundlagen geschaffen, Instrumente zur Gleichberechtigung sind vorhanden. Dennoch sind Frauen in der Schweizer Politik in der Minderheit. Ihr Anteil im Nationalrat liegt aktuell bei knapp 32 Prozent, im Ständerat bei 13 Prozent. Im Grossen Rat in Graubünden sind von den 120 Parlamentariern 26 Frauen. In den 106 politischen Gemeinden in unserem Kanton hat es aktuell 11 Präsidentinnen.
Es gibt Aussagen, Studien und politische Meinungen darüber, warum Frauen immer noch und gerade in höheren Positionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil untervertreten sind.
Seit vielen Jahren bin ich auf kommunaler und regionaler Ebene politisch tätig. Als Präsidentin des Regionalverbandes Bregaglia durfte ich das Fusionsprojekt der Bergeller Gemeinden koordinieren und als Gemeindepräsidentin die Entwicklung der neuen Gemeinde Bregaglia aktiv mitgestalten. Nach dem Bergsturz am Piz Cengalo konnte ich zeigen, dass es für die Bewältigung einer Naturkatastrophe und bei schwierigen Situationen nicht auf Frau oder Mann ankommt.
Leider stelle ich fest, dass in den Gemeinden immer weniger Frauen bereit sind, sich politisch zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Viele setzen andere Prioritäten im Leben, sie zweifeln an ihren Fähigkeiten, wollen sich angesichts der möglichen Folgen lieber nicht exponieren oder nehmen politische Kritik zu persönlich.
Am 14. Juni 2019 haben viele Frauen und Männer in der Schweiz am Frauenstreik teilgenommen. Eine grosse und eindrückliche politische Demonstration. Es ist zwingend, für die Gleichstellung der Frauen weiter zu kämpfen. Frauen müssen aber willens sein, ihre Chancengleichheit zu nutzen und in Eigenverantwortung leben.
Ich zitiere zum Schluss den berühmten Satz von Barack Obama, ehemaliger Präsident der USA: «Yes, we can». Diese drei Wörter machen Mut, die Dinge anzupacken und dranzubleiben.