Dieses Jahr ist bei mir sehr viel passiert, fast mein ganzes Leben wurde auf den Kopf gestellt, aber was mich wohl am meisten bewegt hat, war mein Wegzug von Bergün/Bravuogn. Die Gründe wegzuziehen, lagen auf der Hand; es war sowohl aus privater als auch aus beruflicher Sicht ein „notwendiger Wechsel“. Ich fühle mich sehr wohl in meinem neuen Daheim in Malix, aber so wie in Bergün wird es nie wieder werden. Egal, wohin es mich vielleicht mal verschlägt auf dieser Welt: Ein Teil meines Herzens wird immer in dem kleinen Dorf am oberen Ende des Albulatals bleiben.
Wegzug, Umzug, Neuanfang – ich hatte es von klein auf nie anders gekannt. Schon als Kind bin ich mit meinen Eltern spätestens alle 2 Jahre umgezogen, ich besuchte x verschiedene Kindergärten und Schulen, mit 16 verbrachte ich 1 Jahr in den USA, und die Reiselust zog sich auch durch mein Erwachsenenleben wie ein roter Faden. An einem Ort verwurzelt sein, alle Freunde bereits aus dem Kindergarten kennen, vielleicht sogar in dem Haus aufwachsen, in dem schon ein Elternteil gross geworden ist? Das war mir fremd. Ich war definitiv ein Mensch mit Flügeln, aber vielleicht hatte ich unterbewusst immer nach einer Heimat gesucht? Bergün jedenfalls war für mich Liebe auf den ersten Blick. Ich, die ich mit Buenos Aires, Lagos und Houston in einigen der grössten Städte der Welt gelebt hatte – ich hatte mein Herz schon nach kurzer Zeit an das kleine Dorf am Fusse des Albulapasses verloren und blieb 7.5 Jahre, viel länger als an jedem andern Ort.
Sich in so einem kleinen Dorf einzuleben, brauchte seine Zeit. Was die Touristen schätzen – die Abgeschiedenheit, die Einfachheit – ist nicht immer einfach, wenn man 365 Tage im Jahr damit klarkommen muss. Dass jeder jeden kennt, kann ein Segen sein – aber keinen Schritt tun können, ohne dass es das ganze Dorf mitbekommt, ist manchmal auch ein Fluch. Das Leben in einer so kleinen Dorfgemeinschaft ist wie wenn man gemeinsam auf einem Schiff ist, sich aber nicht unbedingt alle Mitsegler ausgesucht hat. Man muss sich auch mit Menschen arrangieren, denen man in einer Grossstadt aus dem Weg gehen würde. Aber es ist wie auf einem grossen Segelschiff mit einer gut eingespielten Crew: Wenn man in ein Unwetter gerät, dann ziehen alle an einem Strick. Jeder Ort auf der Welt hat seine Vor- und Nachteile, und für mich haben die Vorteile Bergüns immer überwiegt.
Waren es die Menschen, die Berge, die schöne Natur, die mich so lange bleiben liessen? Wohl eine Kombination aus allem. Und obwohl ich neben sehr vielen wunderschönen Erlebnissen und wunderbaren Begegnungen auch die mit Abstand schlimmste und traurigste Zeit meines Lebens habe erfahren müssen, so ist mir der Ort doch mehr Heimat geworden, als jeder andere Ort auf der Welt. Ich durfte wunderbare Freundschaften schliessen, dort stehen mir ganz viele Türen offen, und ich fühle mich dem Ort und den Menschen auf eine Art verbunden, wie ich es bis anhin nicht kannte. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir meine „Heimat“ selbst ausgesucht habe, dass ich sie so sehr schätze? Dass ich den Ort bewusst gewählt habe, statt einfach nur hineingeboren zu werden? Wer sagt denn, dass Heimat immer nur mit Verwandtschaft und Familie zu tun haben muss, dass Heimat nur der Ort sein kann, an dem man aufgewachsen ist? Wikipedia definiert Heimat als „eine Beziehung zwischen Mensch und Raum“. Weiter heisst es, „der Heimatbegriff befindet sich in ständiger Diskussion. (…) Menschen können auch abseits des Ortes oder der Region, wo sie geboren wurden (und aufgewachsen sind), „heimisch werden“.“ Ich sage: Der Ort, wo man herkommt, ist Herkunft, aber Heimat ist dort, wo das Herz sich zu Hause fühlt.
Der Publizist und Pädagoge Hartmut Sommer formuliert es sehr schön: „Die erste Heimat, in die man geboren und wo man aufgewachsen ist, erhält man geschenkt. Die zweite Heimat muss man sich aktiv aneignen“. Und: Für das gute Gelingen sei auch die Offenheit der aufnehmenden Gesellschaft eine wichtige Voraussetzung. Im Gespräch mit einem alteingesessenen Bergüner um Umzüge und solche Dinge (ich hatte damals grad meinen ca. 26ten hinter mir, er war in seinem Leben genau ein Mal umgezogen, von dem Elternhaus in dem er geboren wurde in das, in dem er heute lebt) habe ich ihm gegenüber erwähnt, dass Bergün der Ort sei, in dem ich die längste Zeit meines Lebens verbracht hätte. Er meinte darauf fröhlich: „Ach, das spricht dann aber für uns!“ Eben.