«Den Touristen gibt es nicht»

Der Autor, Künstler und Philosoph Martin Kunz lädt regelmäßig zum Nachdenken ins Engadin ein. Wieso lockt diese Region Kulturschaffende an, welche Fragen stellt die Philosophen an das Leben und kritische Gedanken zum Tourismus.

Die Fragen stellte Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Martin Kunz, Sie sind regelmäßiger Gast in Sils Maria, um mit Feriengästen über das zu philosophieren, was uns im Leben nie loslässt, von der Liebe bis zum Tod. Geht von der Landschaft Engadins ein besonderer Sog für solches Nachdenken aus?

Martin Kunz: Seit über 100 Jahren zieht das Engadin Intellektuelle und Kunstschaffende an. Richard Wagner war schon in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts da. Nietzsche verbrachte in den 80er Jahren die Sommermonate in Sils-Maria. Dann kamen sie alle, die kreativen Männer: Walter Benjamin, Benn, Proust, Rilke, Celan, Cocteau, Hermann Hesse, Dürrenmatt und Frisch, Adorno. Aber jetzt höre ich auf mit Namen, obwohl wir mit dieser zufälligen Aufzählung erst in den 60er Jahren angekommen sind.

Aerni: Aber warum hier oben…?

Kunz:  Eine ironische Antwort stammt von Robert Musil: Dieses ganze Engadin kommt vom Worte „Inn“. Bei Maloja entspringt er, ein lächerlicher Bach ist er. Aber was haben die Schweizer aus ihm gemacht? Das Engadin!

Aerni: Eigentlich bedeuteten die Berge für die Bewohner vor langer Zeit Arbeit und Armut, dann kamen die Touristen und die Poeten und verklärten diese Welt in Poesie und Inspirationsquelle. Welchen Effekt haben die Alpen für Ihre Arbeit als Philosophen des 21. Jahrhundert?

Kunz: Es ist natürlich nicht das, was die Schweizer gemacht haben, was hier wirkt, es ist die Natur, das Naturschöne, das Erhabene. In der Alpenwelt erfahren wir das relative Große der Berge als Spiegel für das absolut Große. Das erschüttert uns. Für Schiller war dieses Erlebnis zweideutig, ein Gefühl von Wehsein und von Frohsein.

Aerni: Und für Sie?

Kunz: Ich – und auch mein Mitdenker, der Philosoph und Mathematiker Markus Huber – wir können uns dem anschließen. Was bringt das für die Reflexion der Fragen, die den modernen Menschen umtreiben? Ist das nicht romantische Ablenkung vom dringend zu fordernden Problembewusstsein?

Aerni: Gerade wollte ich diese Frage stellen. In Davos treffen sich einmal im Jahr Globalplayer aus der Politik und aus der Wirtschaft und die Welt dreht sich mit ihren Pannen weiter. Wie wichtig ist heute noch die Philosophie für unsere Gesellschaft? Zusammen mit Ihrem Kollegen Markus Huber machen Sie sich Gedanken zum Beispiel über die 68er Generation, Gott, Mensch und Maschine. Begriffe, die uns alle angehen. Aber Hand aufs Herz, hat sich die Philosophie nicht vom Mensch im Alltag verabschiedet, der eigentlich sich dieselben Fragen stellt?

Kunz: Philosophie hat in einer Welt, in der es von Experten wimmelt, die Aufgabe, eine Lebenswissenschaft zu sein, das heisst, sie ist für die Nachdenklichkeit zuständig. Diese schafft Distanz. Distanz ermöglicht das Zurückweichen vor ideologisch befrachteten Antworten und in der Folge angemessenes Engagement für sich und die Welt. Das läuft beim einzelnen zunächst auf die Frage hinaus: Lebe ich eigentlich so, wie ich mir ein sinnvolles Leben vorstelle? Was verhindert, dass ich das tue? Wie ist richtiges Leben im falschen möglich? Das sind tatsächlich Fragen, die sich jeder irgendwann einmal stellt. Die Philosophie hilft, naiv gebrauchte Begriffe zu wirklich Begriffenem werden zu lassen.

Aerni: … Worte erhalten also mehr Gewicht?

Kunz: Dieser Reflexionsraum ist für mich bestimmt durch die Erzählungen, die aus dem Geist humanistischer Gesinnung stammen. Allerdings hat auch der Humanismus im Laufe seiner Geschichte falsche Einseitigkeiten erzeugt. Wir können heute nicht mehr auskommen ohne die Denkfiguren der Polarität. Wie denken und verarbeiten wir das Negative? Wie umgehen mit dieser Dialektik?

Aerni: Ich hole Sie nun zu einer provanen Frage herunter. In Graubündens Medien finden sich viele Artikel über die Zukunft des Tourismus. Hätten Sie für diesen Kanton eine Vision parat?

Kunz: Das Bündnerland ist ja in sich unglaublich vielfältig. Wir haben jetzt vom Engadin gesprochen – eine ganz andere Welt als etwa das Bündneroberland oder das Lugnez … Und so gibt es ja auch  d e n  Touristen nicht. Als es um Familienferien ging, orientierten wir uns an kindergerechten Konzepten. Heute interessieren mich die Angebote für ein einigermaßen jung gebliebenes Bildungsbürgertum.

Aerni: Konkret heißt das…

Kunz: Zum Bündnertourismus fallen mir drei Dinge ein – kritische Überlegungen zu ökologischen Fragen lasse ich jetzt mal beiseite:  

  • Menschen suchen Erholung und Regeneration, Sonne, Erlebnis, Kontakte und Kontraste. Es ist heute schwieriger geworden, Segmente zu definieren. Wir switchen, wechseln zwischen teuren Wellnessgelüsten und schlichten Reisen. Wie wird der Tourismus diesem Typus des Konsumenten gerecht?
  • Es bräuchte mehr kostengünstige, aber dennoch qualitativ gute Angebote. Wie schafft man es, dass etwas billig und charmant ist?

Und: Ich glaube, dass integrative Modelle attraktiv sind, also die Kooperation von Hotels, Bahnen, Sportgeschäften usw. Gratisnutzungen und Verbilligungen von Angeboten dienen dem Gast und den Unternehmen.

www.martin–kunz.com

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(Bild: zVg.)