Eine Sprache fehlt

Im 21. Jahrhundert Schülerin oder Schüler zu sein, ist hart. Nach einem pädagogisch sanften Übergang vom Kindergarten in die ersten Primarschuljahre dreht sich der Wind spätestens in der Mittelstufe, wo unsere Kids gnadenlos auf die heutige Leistungsgesellschaft eingestimmt werden. Lehrerinnen und Lehrer von heute sind dabei eierlegende Wollmilchsäue, sie müssen vielfältige Fach- und Sozialkompetenz vermitteln, dazu ein Verständnis für Politik, Kultur, Gesundheit, Beziehungen, Ethik, Sexualität wecken – und dabei gleichzeitig Vorbild sein und vor Passion strotzen. Ein fantastischer, schwieriger Beruf.

In diesem Kontext erscheint die Frage, ob die Kids von heute neben Deutsch eine oder zwei Fremdsprachen in der Primarschule lernen sollen, ziemlich banal. Für die einen ist die Primarstufe prädestiniert, möglichst viel «Sinnvolles» in den Unterricht reinzupacken, weil die Schülerinnen und Schüler in diesen Jahren am meisten und am schnellsten lernen. Für andere wird genau an dieser Stelle die Grenze zur «sinnlosen» Überforderung überschritten. Die Forschung zum Thema ist widersprüchlich. Eine Studie kommt zum Schluss, der praktische Nutzen einer erlernten Fremdsprache in der Primarschule habe schon in der Oberstufe keinen Effekt mehr. Eine andere wiederum entkräftet die Befürchtung, die Primarschüler seien von zwei Sprachen überfordert. Dazu kommt die Frage, welche Sprachen es denn sein sollen: Italienisch, Französisch oder Englisch (und irgendwann mal Chinesisch?). Oder ob man nicht lieber mehr in mathematische Skills investieren sollte. Eine Meinung zu diesem Thema hat praktisch jede/r, aber keiner kann für sich in Anspruch nehmen, die goldene Antwort für alle zu kennen. Die Paradelösung gibt es nicht. Nach dem Bundesgerichtsentscheid wird die Bevölkerung an der Urne entscheiden müssen, wie viele Sprachen die SuS – wie die Schülerinnen und Schüler in der Lehrer-Ausbildung gendergerecht abgekürzt werden – zukünftig lernen sollen. 

Vielleicht wäre es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten – und das System zu hinterfragen. 2004 entschieden die Erziehungsdirektoren im Harmos-Konkordat, dass alle Schweizer zwei Landessprachen und Englisch lernen sollen. Im von 2010-2014 entwickelten Lehrplan 21 hielt man daran fest. Die meisten Kantone haben deshalb in den letzten Jahren entschieden, schon an der Primarschule zwei Fremdsprachen zu unterrichten, und zwar eine zweite Landessprache und Englisch. Angesichts der sich rasant verändernden Gesellschaft muss die Frage erlaubt sein, ob diese Lehrpläne nicht schon wieder überholt sind. 

Man kann eine Fremdsprache zwar als Kind lernen, wenn man sie aber anschliessend nie nutzt, ist das Wissen auch schon wieder weg. Natürlich kann man sagen, etwas bliebe schon hängen und die Kids entwickelten dabei ja auch ein Verständnis für verschiedene Kulturen, was unzweifelhaft ein Wert ist. Aber: Warum findet eine andere Weltsprache, die in Zukunft massiv an Bedeutung gewinnen wird, in dieser Diskussion nicht statt? Warum reden alle vom Thema «Digitalisierung», das zwar immer wieder auftaucht und dessen Wichtigkeit betont, aber von der Volksschule mehrheitlich ignoriert wird. Warum ist die digitale Zukunft so wichtig, wenn die wenigsten erklären können, was das eigentlich bedeutet und welche Chancen dieses Feld eröffnet? Deshalb ist es nachvollziehbar, warum «Programmieren» als gemeinsame Fremdsprache einer globalisierten Welt (noch) nicht ernst genommen wird.

Aber schauen Sie sich doch mal die Kids von heute an und fragen Sie sich: Ist es richtig, neben Deutsch schon in der Primarschule zwei klassische Fremdsprachen zu lernen anstelle dem Umgang mit der neuen digitalen Realität eine höhere Priorität einzuräumen? An dieser Stelle wären die meisten Lehrerinnen und Lehrer heute überfordert. Von vielen Schülerinnen und Schüler werden sie bezüglich digitalem Know-how schon in der Mittelstufe überholt. Kurz gesagt: Ob die Schülerinnen und Schüler in der Primarschule eine oder zwei Fremdsprachen lernen, ist für die Zukunft der Kids selbst nicht so relevant – den einen nützts, den andern nicht. (Anders sieht es für verschiedene Interessensvereinigungen aus, bei denen es in der Frage um viel Geld und Macht geht.) Wenn sich Graubünden aber fit machen will für eine digitalisierte Zukunft und das Ausbluten durch tausendfache Abwanderung der Jungen wegen fehlender Perspektiven im Kanton bremsen will, braucht es neue Wege, ein Commitment für neue Themen – wie eben dem Erlernen von Programmierkenntnissen. Das wäre wirklich zukunftsweisend. Schwer nachvollziehbar? In der Schule von gestern und heute lernen die Kinder im Fach Werken, wie man beispielsweise ein Kugelspiel baut. Zukunftsweisend wäre doch, wenn sie ein solches Spiel nicht nur physisch bauen, sondern auch auf einen Bildschirm zaubern – sprich programmieren – könnten. Dort liegt in Zukunft das grösste Potenzial.

Aber natürlich ist auch das nicht für jedes Kind das Richtige. Man müsste sich deshalb fragen, warum nicht schon in der Primarschule ein individualisierterer Unterricht möglich ist. Warum nicht einen Basisstoff vermitteln und daneben die Eltern entscheiden lassen, was ihre Kinder vertieft lernen sollen? Die können ihre Kids nämlich besser einschätzen als eine Erziehungsdirektorenkonferenz, die vor vielen Jahren entschieden hat, ein Dach über alle stülpen zu wollen. 

Natürlich kostet das Geld, und natürlich kann man das schwierige Thema «Digitalisierung» nicht einfach zusätzlich den Kids und Lehrern aufbürden. Es wäre aber das, was für Graubünden mittel- und langfristig eine positive Entwicklung möglich machen würde. Vor allem junge Bündner Politikerinnen und Politiker sind gefordert, grösste Anstrengungen in diese Richtung zu unternehmen. Für die Lehrerinnen und Lehrer ändert sich derweil wenig. Sie haben schon so alle Hände voll zu tun. Und schaffen beim Vorbeigehen den vielleicht allerwichtigsten Auftrag der Volksschule, nämlich den Kids Sozialkompetenzen zu vermitteln. Denn ob in einer analogen oder einer digitalisierten Zukunft: Zu lernen, in unserer Gesellschaft miteinander umzugehen, ist das wichtigste Gut der Volksschule.

 

(Symbolbild: Pixabay)