Lina Moser ist Bloggerin aus Grüsch und porträtiert in unregelmässigen Abständen «Lüt vu Graubünda». Dabei berichtet sie über einen Aspekt aus dem Leben von «normalen» BündnerInnen. Der Blog ist lose angelehnt an die populäre Webseite «Humans of New York».
Evelyn Meyer, 25, Valzeina
«Ich möchte Mut machen»
Als Kind war ich einerseits aufgeweckt, aber ich habe mich auch oft zurückgezogen. Mit Gleichaltrigen auf dem Spielplatz kam ich nicht gut klar, heute würde man das direkt hyperaktiv nennen. Im Kindergarten ging es aber noch, gehapert hat es erst ab der Einschulung. Ich war unruhig, konnte mich nicht gut konzentrieren und Mathe habe ich sowieso nicht verstanden.
Dann kam meine zweite Schwester zur Welt. Leider hatte sie einen schweren Herzfehler und musste die ersten neun Monate im Spital verbringen. Mein Vater hat gearbeitet und meine Mutter war diese Zeit über in Zürich, hatte eine kleine Wohnung direkt neben dem Spital. Und so kamen meine mittlere Schwester, damals achteinhalbjährig, und ich als Zehnjährige bereits in verschiedene Pflegefamilien im Dorf. Diese Tage waren wir bei dieser Familie, jene Tage bei einer anderen und wenn Papa lange arbeiten musste und morgens früh wieder auf, schliefen wir auch bei den Familien. Das war schwierig, da wir in verschiedenen Familien betreut wurden, hatten wir über längere Zeit kein richtiges Zuhause.
Als dann Mama mit meiner kranken Schwester nach Hause kam wurde es nicht einfacher. Ich musste schnell lernen auf eigenen Beinen zu stehen. So war ich mit elf daheim zuständig für das Frühstück am Wochenende, einkaufen, auftischen und wieder saubermachen und direkt danach wurde mir der Staubsauger in die Hand gedrückt. Also habe ich dann noch die Wohnung gefegt, Badezimmer geputzt, konnte um elf kurz duschen und musste wieder los, um das Mittagessen einzukaufen und herzurichten. Man darf sich hier aber nicht allzu viel vorstellen. Da meine Mama auch nicht wirklich gekocht hat – bei uns gab es vor allem Backofen- und Fertigfood – war die Ernährung relativ einseitig. Donnerstag war immer der beste Tag, denn dann brachte meine Mutter ein Grillhähnchen und Pommes heim, die man nur noch im Ofen warm machen musste. Das war lecker!
Meine kleine Schwester war in dieser Zeit auch sowas wie meine beste Freundin. Ich habe mich gerne und viel um sie gekümmert. Ihre 14 verschiedenen Medikamente kannte ich mit der Zeit und ich wusste auch, wie man ihr die über die Sonde verabreicht. Nachmittags bin ich mit ihr spazieren gegangen, um meine Mutter zu entlasten.
Mit dreizehn habe ich einen neuen Job gefasst. Ich sollte jeweils in den Ferien meine demente Urgrossmutter (84) pflegen, da mein krebskranker Urgrossvater (92) das nicht mehr konnte. Diese Zeit im Tessin war schön. Ich habe mit meiner Urgrossmutter das Mittagessen gegessen (das meine Grossmutter gekocht hat, bevor sie zur Arbeit musste), habe mit ihr gequatscht und gespielt. Nachmittags war sie immer so zwischen 14 und 17 Uhr im Bett, dann kam mich die Firmgotte meiner Mutter abholen und ging mit mir in die Badi. Diese Zeit habe ich sehr genossen.
Schlimm wurde es eigentlich erst in der Oberstufe. Da wurde ich richtig gemobbt. Angefangen bei zerstochenen Pneus am Velo über zerschnittene Kleider, Schlägereien und sogar die Haare haben die mir abgeschnitten. Ich habe mich dann immer mehr in meine eigene Welt zurückgezogen, was auch sehr schön war, aber zurück in der Realität doch auch immer wieder ein Schock.
Die Darmbeschwerden fingen im Alter von 8 Jahren an. Mit dreizehn wurden die Beschwerden jedoch schlimmer. Ich hatte Koliken, konnte mich mehrere Tage nicht «entleeren», aber irgendwann, so nach zwei Wochen, kam alles per Diarrhö raus und es war wieder gut für gewisse Zeit. Bald kam auch die erste Essstörung auf.
Später wurde die Darmgeschichte schlimmer, ich habe mich nicht mehr selber entleert, hatte Krämpfe und musste immer wieder notfallmässig ins Spital um alles rauszuholen. Da war ich aber schon 17, in der Ausbildung und hatte meinen inzwischen Ehemann bereits kennengelernt. Er brachte mich ins Spital und stand zu mir die ganze Zeit über. Mittlerweile ist das einige Zeit her. Wir sind glücklich verheiratet, wohnen auf dem Land in einem älteren Haus mit viel Platz und einigen Tieren.
Definitiv hat sich meine Lebensqualität jedoch verbessert, als ich letztes Jahr im Sommer mein Stoma (künstlicher Darmausgang) erhalten habe. Das hört sich für viele schrecklich an, für mich ist es nur super! Endlich kann ich mich wieder schmerzfrei bewegen, kann alles tun und lassen wie ich es will und bin rundum glücklich. Ich bin dankbar, dass die Ilco Südostschweiz mich bei der Angewöhnung unterstützt hat. Der Austausch mit Gleichgesinnten hat mir sehr geholfen. Klar, gewisse Einschränkungen gibt es, aber die fallen bei meiner Vorgeschichte nicht ins Gewicht. Das Positive überwiegt. Und das ist eigentlich die Botschaft, die ich hier vermitteln möchte. Man darf Hilfe suchen und man darf sie annehmen! Egal in welchem Bereich. Es kann alles gut werden, es liegt in Euren Händen und ich helfe gerne.
(Bild: Lina Moser)