Text: Michael Aschwanden / Bild: Aus dem Bestand von Lienhard & Salzborn, Staatsarchiv Graubünden
Verstaubte alte Glasplatten, teilweise sogar zerbrochen. Schwer und unhandlich. Darauf fotografisch festgehalten eine Landschaft und Personen, die einen Berg besteigen. So und ähnlich kann man alte fotografische Aufnahmen auf Glas antreffen. Sie gilt es zu bewahren und zu überliefern, damit diese auch unserer nächsten Generation ihre Geschichten erzählen können. Der UNESCO-Welttag des audiovisuellen Erbe erinnert daran, dass in den vergangenen 100 Jahren der Mensch zahlreiche Fotos, Videos und Tonaufnahmen geschaffen hat, die es zu erhalten gilt.
Unter dem diesjährigen Motto «It’s Your Story – Don’t Lose It» präsentiert die die Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur in Zusammenarbeit mit dem Frauenkulturarchiv Graubünden in einer Veranstaltung im Digitalisierungslabor zwei ausgewählte Glasplatten im Grossformat 40 x 50 Zentimeter aus dem Bestand des Bündner Fotoateliers Lienhard & Salzborn (1889-1919). Anhand dieser Glasplatten nahmen die Expertinnen und Experten aus dem Staatsarchiv Graubünden, der HTW Chur und dem Frauenkulturarchiv die Besucherinnen und Besucher auf eine Reise in die Vergangenheit bis zur Gegenwart mit.
Reinigen, Konservieren, Digitalisieren… und plötzlich eine Geschichte
Ein Archiv besteht nicht nur aus alten Akten und Dokumenten. Oft verborgen befinden sich kleinere und grössere Schätze darin die nur darauf warten, gehoben und gesehen zu werden. Mitunter am interessantesten, aber noch wenig erschlossen und zugänglich gemacht, sind fotografische Aufnahmen. Die meisten von uns kennen noch die Rollfilme, welche man in Fotoapparate einspannen konnte und die anschliessend in einem Fotofachgeschäft entwickelt werden mussten. Den jüngeren unter uns ist dies teilweise bereits nicht mehr vertraut. Die Digitalkameras und Smartphones haben den klassischen Rollfilm abgelöst. Doch wer kennt noch Glasplatten als Trägermaterial geschweige denn Glasplatten im Format 40 x 50 cm oder noch grösser? So erging es mir, als wir die Anfrage aus dem Staatsarchiv Graubünden erhielten die grossen Glasplatten aus dem Bestand des Fotoateliers Lienhard & Salzborn zu digitalisieren. So was hatten wir doch noch nie. Im Rahmen dieses Erhaltungs- und Digitalisierungsprojektes wurde in einem ersten Schritt nun der Bestand aus grossen positiven sowie negativen Glasplatten gereinigt und anschliessend digitalisiert. Die Intention bestand darin, dass diese Glasplatten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können ohne die Originale schädlichen Umwelteinflüsse auszusetzen. Im Digitalisierungsprozess setzt man sich automatisch auch mit den Inhalten und dem Fotografen auseinander. Neben den inhaltlichen Motiven erkennt man, dass das Fotografieren zur damaligen Zeit ein richtiges Handwerk war. Mit einer Aufnahme war es nicht getan. Um diese an den Mann und die Frau zu bringen mussten sie «aufgehübscht» werden, so dass sie für den Kunden annehmbar war. Im Gegensatz zu heute konnte man damals nicht einfach 20, 30 oder 40 Aufnahmen machen sondern musste sich gut vorbereiten und ebenfalls die Fotos nachbearbeiten. Bemerkenswert war an diesem Bestand war, dass von einigen negativen auch positive Glasplatten (Abzüge) vorhanden waren. Beim Vergleich wurden wir auf einmal stutzig.
Frauen in Männerkleidung?
Vier Personen besteigen einen Gletscher, was fotografisch auf einer negativen Glasplatte festgehalten wird. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um eine Seilschaft auf dem Diavolezza-Gletscher zurzeit der Belle Epoque handeln könnten. Es könnte vielleicht ein Erinnerungsfoto sein oder eine Aufnahme für eine Werbung. Auf jeden Fall sieht es die Szenerie auf den ersten Blick sehr normal aus. Bei genauerer Betrachtung der Glasplatten hingegen kommt die Frage auf, ob es sich bei drei der abgebildeten Personen um Damen in Männerkleidung handeln könnte. Bei den abgebildeten Personen auf der positiven Glasplatten erkennt man, dass der Fotograf die Aufnahme bearbeitet hat. Das alleine wäre noch nicht wirklich speziell. Hier hingegen sind auf einmal Rucksäcke und in den Gesichtern Bärte zu sehen. Was hat der Fotograf sich dabei wohl nur gedacht? Wollte er vielleicht unkenntlich machen, dass da Damen mit von der Partie gewesen sind und dann noch in Männerkleidung? Dies wäre in der Gründerzeit verschiedenster Sektionen des Alpenclubs ein Tabubruch gewesen, da der Bergsport damals dem starken Geschlecht vorbehalten war. Anhand dieser Ausgangslage fand ein spannendender Austausch über die damaligen Rollenverteilung und Geschlechterbilder statt. Frau Silke Redolfi wies zum Beispiel darauf hin, dass es durchaus auch Frauen gab, die im Bergalpinismus aktiv waren. Dabei handelte es sich wohl häufig auch um Touristinnen, die es sich in Bergen erlauben konnten in die Berge zu gehen. In weiteren Aufnahmen erläuterte sie dies anhand anderer Aufnahmen, dass Damen durchaus in einer Kletterumgebung unterwegs waren, aber in jenen Fällen dann in Frauenkleidung, sprich Röcke.
Die Schwierigkeit bei älteren fotografischen Aufnahmen besteht darin, dass diese nicht immer von den Fotografen gut dokumentiert worden sind oder Teile der Dokumentation mit der Zeit verloren ging. Die Aufnahme mit der 4er Seilschaft zeigt aber, dass historische Fotografien oft viel mehr erzählen als nur auf dem Bild zu sehen ist. Erschwerend oder je nach Sichtweise herausfordernd kommt hinzu, dass Bilder nie die ganze Wirklichkeit zeigen sondern nur eine Interpretation des Fotografen/der Fotografien. Es liegt an uns aus dem vorhandenen Wissen Interpretationen oder Schlussfolgerungen ziehen zu können.
«It’s Your Story – Don’t Lose It»
Die Veranstaltung, welche im Rahmen des UNESCO-Welttags des audiovisuellen Erbes stattfand, hebt die Bedeutung hervor, dass die Menschheit in den vergangenen 100 Jahren ein grosses Erbe an Fotografien, Tonaufnahmen, Filmen und Videos geschaffen hat. Erst in der jüngeren Vergangenheit haben Bilder auch für die Forschung an Bedeutung gewonnen. Es zählt nicht mehr nur das geschriebene Wort sondern vermehrt auch die Aufnahmen aus der Vergangenheit. Wie haben sich Dörfer und Städte entwickelt, wie haben sich die Menschen gekleidet oder wie hat sich die Landschaft verändert? Fotografische Aufnahmen erlauben diesen Fragen nachzugehen um frühere Entwicklungen zu verstehen und ihre Auswirkungen auf heute nachzuvollziehen.
Über den Autor: Michael Aschwanden ist Informations- und Dokumentationsspezialist. Er arbeitet an der HTW Chur am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft und arbeitet in diversen Forschungsprojekten mit.
(Bild: Frauen am Berg, Diavolezza/zVg.)