Bündner Perlen: «AndaRojo – Desert» (2007)

Hin und wieder gibt es Platten aus Graubünden, die nie eine grosse Medienaufmerksamkeit erhalten haben oder vielleicht schon in Vergessenheit geraten sind. Dieses neue Gefäss, exklusiv auf GRHeute, wühlt durch alte LP-Kisten, entstaubt CD-Sammlungen und widmet grossen Werken eine kurze, aber ausführliche Plattenkritik mit einem gehörigen Schuss Nostalgie. Einerseits zur Erinnerung, anderseits zur Aufstockung jeder Tonträgersammlung, aber vor allem um aufzuzeigen, welch vielfältige Bündner Musikszene wir doch haben.

Diese Perlen dürfen in keiner kompletten Bündner Musiksammlung fehlen. Willkommen zu den Bündner Perlen.

2002 war ich süsse 14 Jahre jung. Ich hatte vor vier Jahren mit dem Schlagzeugspiel gestartet und hatte irgendwie keinen Bock mehr darauf. Doch dann passierte damals in Jenaz etwas, was mein Leben bis heute prägte. Ich, der träge, unmotivierte Teenager, der fast seine Sticks an den Nagel gehängt hätte, bekam einen neuen Schlagzeuglehrer. Der gute Herr kam ursprünglich aus Pragg-Jenaz und war lange Zeit ein Globetrotter gewesen, der hauptsächlich aus dem Rucksack und von der Hand in den Mund lebte. Sein Name war Hans Conzett und die Musikgesellschaft Jenaz hatte mit ihm ein goldenes Händchen für Personal bewiesen. Hans hatte immer die besten Storys auf Lager und war in Ländern gewesen, die ich bisher nicht einmal vom Hörensagen gekannt hatte. Ich hatte in dem langhaarigen und tätowierten Drummer meine allererste Ikone gefunden.

Er zeigte mir, dass es neben langweiliger Theorie auch noch etwas anderes gibt, nämlich gelebte Musik, vollgepackt mit Emotionen und Leidenschaft. Ich war infiziert. Ab jetzt wurde nicht mehr stier nach Noten neue Musik gepaukt, sondern gejamt und nach Gutdünken draufgehauen. Er zeigte mir einige Bands, die ich heute noch höre, wie beispielsweise Pearl Jam. Jedes Mal, wenn ich zum Beispiel den Song «Given to fly» höre, denke ich an sein breites Grinsen und wie er sagt, wie magisch dieser Moment und dieser Beat immer wieder ist.

Wir waren sofort, trotz des grossen Altersunterschieds, sofort auf einer Wellenlänge und diskutierten vor und nach den Proben ausgiebig über Musik. Eine Stunde bei ihm im Schlagzeugunterricht verflog wie schlappe fünf Minuten und ich fand meine Passion in immer wieder neu entdeckten Rocksongs. Bald gründete ich meine erste Band «Crossbones» und versuchte an seine damalige Band «Prana» nach zu eifern. Seine damalige Band war dann doch wie über Nacht aufgelöst und hatte sich auseinander gelebt, wie es mir in meiner Karriere auch noch einige Male passieren würde…

Doch Hans machte weiter und stand an einem Silvester auf einmal mit einer Band namens «AndaRojo» im legendären Safari Beat Club auf der Matte und riss die Hütte ab.

Kurz davor war ich noch in einem Workshop bei ihm in Bad Ragaz, wo ich meine ersten richtigen Erfahrungen als Bandmusiker sammelte und die damals sehr populären «Newrotics» und damit auch meine jahrelange musikalische Partnerin Sarah Mark kennenlernte. Hans hat mir viele Türen geöffnet, für was ich ihm heute noch sehr dankbar bin.

Die Band AndaRojo war so etwas komplett Neues und für mich einfach total cool. Sie hatten als Quartett, bestehend aus dem Engadiner Roland Vögtli, den Prättigauern Hans Conzett und Johi Rauber, sowie dem Rheintaler Andi Mehrstetter, eine Magie bei jedem Gig. Was sie schon früh zu der Band machte, die ich insgesamt weitaus am meisten live gesehen habe. Insgesamt sind es glaube ich so um die zehn Mal. Sie hatten im Sculpture Studio in Chur bei Mike Friggerio eine bahnbrechende Demo aufgenommen, die den ersten Megahit «Why me?!?» mit sich zog. Doch was mich total faszinierte, war die Tatsache, dass die Jungs an unglaublich vielen Orten spielten und viel reisten. Bis heute prägt mich diese Band nur schon wegen der Tatsache, dass sie auch mal Konzerte angenommen haben, die keine fetten Gagen abwarfen, der Musik und des Erlebnisses wegen. Livespielen ist für mich als Musiker heute noch etwas vom Grössten, unvergleichlich mit nichts anderem.

Dann um 2006 kam auf stand auf einmal die Idee der Jungs im Raum, dass sie nur noch von der Musik leben wollten und aus diesem Grund nach Südamerika auswandern würden, weil es dort einfacher sein würde.

Ich hatte als Jungspund noch nie eine solch abgefahrene Idee gehört, doch die Jungs zogen es eiskalt durch, was ihnen einen überaus verdienten Platz in der Bündner Musikgeschichte verschafft.

Ich hing an ihren Lippen und war jeden Tag auf ihrer Webseite. Meine Helden berichteten täglich von ihren Abenteuern auf der anderen Seite des Teichs und ich war quasi live mit dabei. Ich freute mich auf den Tag ihrer Rückkehr, weil ich inzwischen fast schon zur AndaRojo-Familie gehörte.

Dann kam der Tag ihrer Rückkehr und bei mir hatte sich einiges getan. Inzwischen hatte ich selbst Konzerte mit meiner Band «Crossbones», die bald den Formationen «Virus of the Cactus» und «Godless Creation» wich. Ausserdem war ich inzwischen aktiv bei der Zeitung High5 journalistisch tätig und versuchte mit Carlo Lardi damals ein TV-Format mit dem Namen «Bandroom» auf die Beine zu stellen. Wir schafften es damals in unserem jugendlichen Übermut nicht einmal zu einer Pilotsendung, und doch haben wir als allererste AndaRojo im frisch eröffneten Palazzo interviewt. Krass, wie lange das schon her ist und wie sich alles gewandelt hat in den neun Jahren.

Doch zurück zum Thema: AndaRojo hatten aus ihrem Abenteuerjahr nicht nur ein brandneues Album mitgebracht, sondern auch noch einen Film, respektive eine Dokumentation gedreht. Ich kann mich noch an die Plattentaufe im Etniko Zizers erinnern, als ich die CD von Hans geschenkt bekam, nach dem Konzert nach Jenaz heimgegangen bin und den ganzen Film um drei Uhr nachts angeschaut habe; unvergesslich.

Der Soundtrack der einzigen romanisch sprechende -Band, die ich jemals innig geliebt habe, begann mit einem irre schnellen Radiomoderator, der auf Spanisch die Jungs ansagte, was ich heute noch sehr amüsant finde. Dann folgte Hit um Hit ohne Tiefen oder Füllmaterial. Die Aufmunterungshymne «Muond in mai», der Weltverbesserungssong «Almas perdidas», das Brett «Cumbat», das elektronisch angehauchte «Bun di», das mir jedes Mal beim Auffüllen des Fruchtsaftsregal im Migros in den Sinn kam, sowie die wunderschöne Ballade «Toc a tai» und noch so viele mehr. Ich kann bis heute kein Wort Romanisch, aber jeden Song der Jungs um Roli Vögtli lauthals mitsingen. Ich buchte sie selbst mit der CD auch einige Male, da ich es ausgiebig genoss, mit einer solch grossen Bündner Band auf einer Bühne zu stehen. Ihr Sternenstaub liess mich aufblühen vor Kreativität. Sie motivierten mich, immer besser zu werden, förderten mein Organisationstalent und machten mich zu einem der aktivsten Eventveranstalter in Graubünden. Ach, wie geil war doch diese Zeit.

Heute spielt Hans Conzett, wegen des Rückens, leider kein Schlagzeug mehr. Andi ist irgendwie ebenfalls von der Musiklandkarte verschwunden. Roli und Johi spielen bei Nau. Roli Vögtli ist ausserdem als Cha da Fö und mit Me and Marie äusserst erfolgreich unterwegs.

Mir bleibt das berauschende Rock-Album «Desert» als Soundtrack für Fernweh und als Denkmal für alles, was als verschworene Gemeinschaft möglich ist. Die Leidenschaft von Hans und mir ist mehr als nur «Yeah-Yeah-Musik», wie unsere beiden Väter das immer behaupteten. Musik kann Berge versetzen und Leben retten. AndaRojo hat Grenzen ausgelotet und gesprengt. Was geblieben ist, ist ein Stück Bündner Musikgeschichte, die einzigartig ist und ein Film von Curdin Fliri, der auch heute noch sehr berührend eine Berg- und Talfahrt einer Band in verschiedenen Drittweltländern dokumentiert. Diese Jungs haben definitiv mal was ihren Urenkeln zu berichten, auch wenn die Band sich 2011 aufgelöst hat. Danke, AndaRojo, für diese erneute Reise in die Vergangenheit, ich verdanke euch viel!

desert

(Quelle: RTR/headhunter.ch)