Das Internat der Evangelischen Mittelschule Schiers (EMS) wird auf Ende Schuljahr nach 178 Jahren geschlossen. Wir haben mit einem Unterländer über seine Jugend im Internat der EMS gesprochen.
GRHeute: Raphael Briner*, wann waren Sie an der EMS? Welchen Typus haben Sie gewählt und wann machten Sie den Abschluss?
Ich war von 1982 bis 88 im Internat und schloss 1988 mit der Matura Typus B (Latein) ab.
Das Internat der EMS schliesst per Ende Schuljahr – was löst das in Ihnen aus?
Ich habe das natürlich via Altschierser-Buschtelefon längst erfahren. Es macht mich traurig, denn damit geht quasi das entscheidende Stück meiner Jugend verloren.
Wie kamen Sie nach Schiers, Sie sind ja ein Seebub aus Stäfa…?
Der Grund waren meine schlechten Leistungen am Literargymnasium Rämibühl. Die Verantwortlichen fanden nach langwierigen, von mir eher sabotierten Tests heraus, dass es weniger an mangelnder Intelligenz als vielmehr an mangelnder Motivation oder Disziplin lag. Also empfahlen sie meinen Eltern, mich in ein Internat zu schicken, damit ich in den Arbeitszeiten «lerne, die Aufgaben zu machen». Arbeitszeiten fanden zwei Mal am Tag statt. Die jüngeren Schüler erledigten unter Aufsicht ihre Hausaufgaben. Eigentlich sollte ich nur ein Jahr lang «lernen, die Aufgaben zu machen» und dann ans Rämibühl zurückkehren. Da ich aber wegen unterschiedlicher Stoffpläne in Zürich hätte repetieren müssen, blieb ich schliesslich sechs Jahre in Schiers.
Wenn Frauen das Wort Internat hören oder lesen, löst das Hanni-und-Nanni-Kopfkino aus. Wie war die Realität und die Routine in einem Schweizer Internat?
Da ich «Hanni und Nanni» nicht gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, ob die literarische Fiktion mit der Realität übereinstimmt. Für mich war die Realität sehr erfreulich. Ich musste nur eine Tür weiter, und schon traf ich einen Freund oder einen Kollegen (in Schiers hatte es übrigens auch interne Mädchen), mit dem ich etwas unternehmen konnte. Das vermisste ich nach meiner Schierser Zeit sehr. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum ich noch heute regelmässig Treffen mit meinen Schierser Klassenkameraden, anderen Alt-Schiersern und auch ehemaligen Arbeitskollegen organisiere. Auch die Routine, der strukturierte Tagesablauf, kam meinem Charakter entgegen.
Keine Mitternachtspartys und Streiche?
Ich bin nicht der Typ, der anderen Streiche spielt. Aber wir haben natürlich schon Blödsinn gemacht. Einmal mussten wir eine Woche lang zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Sandwiches essen, weil wir wir es beim Reklamieren über das Mensaessen zu bunt getrieben hatten. Nachts wurde ab und zu «ausgestiegen». Wir trafen uns dann in einer der Hütten, die den Schierser Schülerverbindungen gehören, zum Festen.
Sie denken sehr gern an diese Zeit zurück. Was war denn so speziell? Der Zusammenhalt?
Ich denke sehr gerne daran zurück. Der Zusammenhalt war gross, denn man teilte die ganze Zeit des Tages miteinander. Dieser Internatsgeist ist speziell. Zu ihm trug auch bei, dass es in Schiers Schülerverbindungen gab (und immer noch gibt). Ich gehörte der Amicitia an. Aber natürlich gab es immer auch Aussenseiter, die nicht zur «Grossfamilie» gehören wollten oder durften.
Wer in ein Gymnasium mit Internat geht, geht ja in der Regel sehr früh weg von den Eltern. Wie war das für Sie?
Der Hauptgrund, warum ich nach Schiers und nicht in ein anderes Internat ging, war die Möglichkeit, bereits in den unteren Klassen jedes Wochenende nach Hause zu gehen. Daher hatte ich zu Beginn viel Kontakt mit meiner Familie. Später änderte sich das. Ich ging eigentlich nur noch heim, wenn meine Wäsche gewaschen werden musste…
Was war das schönste Erlebnis in der ganzen Internatszeit? Was das schlimmste?
Das Schönste war der Sieg im Fussballturnier der Bündner Mittelschulen, das einmal jährlich in Schiers stattfand. Wir schlugen die übermächtig scheinenden Churer, die Nationalliga-B-Spieler im Team hatten. Schlimm war, als ich ein völlig ungerechtfertiges Ultimatum bekam. Der damalige Direktor war eine Zeit lang weg, was der Vizedirektor dazu nutzte, seine Macht auszuspielen. Ein Ultimatum war eine Art gelbe Karte. Danach durfte man sich während eines halben Jahres disziplinarisch nichts mehr erlauben, sonst wäre man aus der EMS geflogen. A propos Direktor: Einmal wurde ich mit einem Kollegen zusammen auf dem Töff eines anderen Kollegen erwischt. Fahren mit motorisierten Fahrzeugen war aus Gründen der Sicherheit strengstens verboten. Der Fahrer und der Besitzer des Töffs bekamen daher ein Ultimatum. Da ich bereits eines hatte, hätte das zweite für mich den Rauswurf bedeutet. Der Direktor kam zu mir und sagte: «Du weisst, dass ich dich rauswerfen müsste. Ich möchte aber, dass Du die Matur machst.» Vielleicht war auch das der schönste Moment.
Die EMS ist nicht die einzige Schule, die ihr Internat schliesst. Wie beurteilen Sie das?
Ich frage mich schon lange, warum ein Internat nach dem anderen schliesst. Mir scheint das kein gutes Zeichen für die Erziehung und Bildung der heutigen Jungen zu sein. Die heutigen Eltern können nicht loslassen. Sie glauben, dass ihre Kinder schlecht rauskommen, wenn sie nicht ständig von Mama und Papa gesteuert werden. Das ist natürlich nur eine Hypothese.
Würden Sie Ihre Kinder auch in ein Internat schicken?
Grundsätzlich schon. Es dürfte nicht allzu viel kosten. Und ich müsste sicher sein, dass meine Kinder dort gut aufgehoben sind, es keinen Missbrauch und ähnliches gibt. Wichtig wäre auch die soziale Durchmischung. Diese stimmte in Schiers: Es hatte vom «armen» Unterländer Scheidungskind über den soliden, aber fern einer Mittelschule wohnenden Bündner bis zum verzogenen und suchtmittelmissbrauchenden reichen Söhnchen alles im Internat. Letzter Typus blieb aber jeweils nicht lange. Dazu kamen die externen Schüler aus der Talschaft und der Herrschaft. In ein Elite-Internat würde ich meine Kinder nicht schicken.
Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Mitschülern? Und den Lehrern?
Da ich einen Grossteil meiner Jugend in Schiers verbrachte, knüpfte ich dort auch fast alle meiner Freundschaften. Meine beiden besten Freunde sind Alt-Schierser, sie sind auch die Göttis zweier meiner Kinder. Auch sonst habe ich Kontakt mit Leuten aus der EMS von damals. Facebook erleichtert das übrigens enorm. Zu Lehrern habe ich keinen Kontakt. Manchmal überlege ich mir aber, ob ich unsere geliebte Englischlehrerin, genannt Mami Fischer, aufstöbern sollte, um mit ihr etwas abzumachen.
*Raphael Briner, 48, studierte nach der EMS Geschichte, Deutsch und Politologie an der Universität Zürich und brauchte trotz dem «Lernen, die Aufgaben zu machen» relativ lange, bis er sein Lizentiat machte (Thema: Visitation der Schweizer Johanniterkommenden 1494/95). Nach langen Jahren bei den Medien («Zürichsee Zeitung», «Tages-Anzeiger») und einem Intermezzo auf einer Kommunikationsagentur ist er derzeit als Leiter Fachzeitschrift und Kommunikation beim Schweizerischen Maler- und Gipserunternehmer-Verband tätig. Briner ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Sein Kürzel ist seit jeher rab. Er kocht wahnsinnig gern und gut und ist Hobby-Önologe mit Vorliebe für Pinots, speziell natürlich aus dem Burgund.
(Bild: ems-schiers.ch/zVg.)